«Die Grenzen des Wachstums» – fünfzig Jahre postmoderner Diskurs

Fragiles Habitat

Manuel Pestalozzi
10. de febrer 2022
Auf der Apollo-8-Mission der NASA entstanden im Dezember 1968 die ersten Fotografien überhaupt, die die Erde als Planeten zeigen. Die Aufnahmen machten auf ihre Fragilität und die Einzigartigkeit unseres Zuhauses aufmerksam. (Foto: William Anders, NASA, PD)

 

Vor fünfzig Jahren wurde die Studie «Die Grenzen des Wachstums» veröffentlicht. Die Untersuchung des Club of Rome erreichte eine enorme Verbreitung: Sie wurde in über 30 Sprachen übersetzt und verkaufte sich millionenfach. Seither wissen wir, dass unser persönliches Handeln globale Auswirkung hat. Diese müssen nicht unbedingt uns treffen. Unsere Lebensweise kann auch für Menschen andernorts oder gar erst für kommende Generationen Konsequenzen haben. Auch wissen wir spätestens seit der Veröffentlichung von «Die Grenzen des Wachstums», dass es fünf vor zwölf ist und wir mit unserer Art zu Leben zur Zerstörung unseres Lebensraums beitragen. Aber obwohl die Studie einen Bewusstseinswandel weg vom Optimismus der Moderne bewirkt hat, vermochte sie doch kein tiefgreifendes Umdenken auszulösen. Und so steuern wir unvermindert auf die Klimakatastrophe zu. 

Die Studie war aber nicht nur eine Warnung, sie verhalf vielmehr auch der mathematisch-naturwissenschaftlich fundierten Zukunftsforschung zum Durchbruch. Sie war also zweifelsohne eine historische Wegmarke. Und sie ist ein guter Ausgangspunkt, um über die postmoderne Befindlichkeit nachzudenken (auch wenn die Postmoderne in der Architektur oft als abgeschlossene Epoche betrachtete wird, befinden wir uns als Gesellschaft mittendrin).

Eine westliche Perspektive

Der Herausgeber der Studie, der Club of Rome, wurde 1968 gegründet. Ziel war es, die wichtigsten Zukunftsprobleme der Menschheit und des Planeten durch holistische, interdisziplinäre und langfristig ausgerichtete Forschungsarbeit zu identifizieren, alternative Zukunftsszenarien zu entwickeln und Risikoanalysen zu evaluieren. Auf diese Weise wollte man schliesslich praktische Handlungsoptionen erarbeiten und vorschlagen. Ausserdem sollten neue Erkenntnisse und Trends gegenüber Entscheidungsträger*innen und der Öffentlichkeit kommuniziert werden, um gesellschaftliche Debatten in Gang zu setzen. Ideengeber war der italienische Wirtschaftswissenschafter und Industrielle Aurelio Peccei (1908–1984). Die anderen Gründungsmitglieder waren Wirtschaftsfachleute sowie Natur- und Geisteswissenschaftler aus den Niederlanden, Frankreich, Österreich und der Schweiz. All diese Herren stammten also aus westlichen Ländern.

«Die Grenzen des Wachstums» erschien 1972 im Moment einer historischen Zäsur. Zwar ängstigte man sich ständig vor einer Eskalation des Kalten Krieges, doch es war seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich aufwärtsgegangen. Die Zeit war gekommen, innezuhalten, Atem zu holen und sich umzusehen. Es begann ein Prozess des Hinterfragens und auch des Kritisierens, der mit den Studentenprotesten 1968 einen ersten Höhepunkt fand. Die Studie des Club of Rome lieferte Evidenz. Sie verdeutlichte mit blanken Zahlen, die auf wissenschaftlichen Erhebungen beruhten, dass beileibe nicht alles zum Besten stand und sich dringend etwas ändern musste.

Die Studie selbst wurde am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den Vereinigten Staaten ausgearbeitet. Die meisten Forschenden stammten aus den USA und Norwegen, doch es waren auch Wissenschaftler aus der Türkei, dem Iran, Indien und Deutschland beteiligt. Vier Mitglieder des Teams waren Frauen. Die englische Ursprungsversion von «The Limits to Growth» lässt sich heute frei von der Website des Club of Rome herunterladen

 

Die Vorstellung, die Welt wissenschaftlich erklären und beherrschen zu können, geht auf die Aufklärung zurück. Doch von der grossen Mehrheit anerkannt wurde sie erst später. Der Cénotaphe à Newton von Étienne-Louis Boullée brachte sie im Jahr 1784 zum Ausdruck. (Schnitt: Étienne-Louis Boullée, PD) 
Exponentielles Wachstum, endliche Ressourcen – die Menschheit auf dem Weg ins Verderben

Die Studie setzte sich mit folgenden Themenfeldern auseinander: Industrialisierung, rasantes Bevölkerungswachstum, Hunger, Ausbeutung begrenzter Rohstoffreserven und Umweltzerstörung. Für die Evaluierung der Ergebnisse und Daten wurden Computer eingesetzt, was in den 1970er-Jahren sehr fortschrittlich war.

Die Grundaussage der Studie besteht darin, dass das Wachstum exponentiell ist, während die Ressourcen limitiert sind. Eine Gemengelage, die unweigerlich zur Katastrophe führen muss. In der Studie wird dieses Szenario als «eher plötzlicher, unkontrollierbarer Niedergang sowohl bei der Bevölkerung als auch in der industriellen Kapazität» beschrieben. Mit ihrer Conclusio stellten die Wissenschaftler*innen die Menschheit gleichsam vor die Wahl: Entweder weitermachen wie bisher, dann werden die Grenzen des Wachstums innert hundert Jahren erreicht sein, oder die Wachstumstrends ändern und eine «ökologische und ökonomische Stabilität» anstreben. Die zweite Variante sei möglich, zeigte sich das Studienteam zuversichtlich. Die Menschheit habe die Zukunft des Planeten selbst in der Hand. Sie solle die Erde als geschlossenes, berechenbares System betrachten und dieses in eine nachhaltige Balance bringen.

 

Die geodätische Kuppel von Richard Buckminster Fuller für die Expo 67 im kanadischen Montréal repräsentierte die ingenieurtechnische Leistungsfähigkeit und den Fortschrittsglauben der USA. Als Geschenk verblieb sie nach der Weltausstellung vor Ort und dient heute unter dem Namen La Biosphère als Umweltmuseum. (Foto: Guilhermeduartegarcia via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
Den Diskurs tiefgreifend verändert

1973 wurde der Club of Rome in Deutschland mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seine Arbeit ausgezeichnet. Doch es gab auch Kritik: Vor allem im englischen Sprachraum wurden die düsteren Voraussagen teils verspottet. «Die Grenzen des Wachstums» hat die Kultur nachhaltig verändert. Unsere Wahrnehmung der Welt ist seither gewiss eine andere. So sind im Westen etwa zahlreiche Gesetzte verabschiedet worden, die die Zerstörung der Umwelt aufhalten sollen. Und obwohl sie nicht ausreichen, haben sie doch positive Veränderungen gebracht. Es sind sogar regierungsfähige politische Parteien entstanden, die Umweltschutz und Nachhaltigkeit zur Basis ihres Programms gemacht haben. Allerdings: Wirklich drastische Massnahmen kennen wir nicht aus der westlichen Welt, sondern beispielsweise aus China (Ein-Kind-Politik).

Die Studie des Club of Rome hat vor allem den Diskurs verändert. Statt Visionen für eine bessere Zukunft stehen eher drohende Katastrophen im Fokus. Manchmal werden regelrechte Horrorvisionen aufgebaut, woran die Medien grossen Anteil haben, was zulasten einer sachlichen, lösungsorientierten Debatte geht und zu Spaltung führt. Bemerkenswert ist auch, dass mit Nachdruck Veränderungen gefordert werden, sich aber tatsächlich wenig geändert hat: Das Wachstum ging in den letzten fünfzig Jahren weiter, und viele sehen das als Erfolg. Unser Lebensstil hat sich nicht grundlegend gewandelt. Viele geben sich zwar entsetzt oder gar erzürnt, doch umdenken und sich wirklich bescheiden sollen stets die anderen. Unsere Wohlstandsgesellschaft ist weiterhin konsumfixiert. So drängt sich die bittere Einsicht auf, dass erst das Eintreten der Katastrophe einen tiefgreifenden kulturellen Wandel herbeiführen kann. 

 


 

Marlen Reusser und Katharina Lehmann glauben, dass (auch) Zwangsmassnahmen nötig sind, um jene Verhaltensänderung zu erreichen, die es für die Abwendung der Klimakatastrophe braucht.

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