Ein radikales und berührendes Werk

Susanna Koeberle
15. März 2022
Feliza Bursztyn, «La Baila Mecánica» (Das mechanische Ballet), 1979 (Foto mit freundlicher Genehmigung der Tate, London)

 

Ihre Skulpturen – etwa die «Camas» (Betten) oder die Figuren von «La Baila Mecánica» (Das mechanische Ballett) – bewegen sich wie von Geisterhand gelenkt. Oder besser gesagt: Sie sind selbst Gespenster! Die mit Stoff überzogenen Strukturen lassen menschliche Körper nur erahnen, aber wir wissen sofort, dass es um den Menschen geht, um uns. Schmerz, Leidenschaft, Humor oder Wahnsinn: All diese Aspekte der menschlichen Existenz sprechen durch Feliza Bursztyns (1933–1982) Arbeiten ganz unmittelbar zu den Betrachter*innen. Die kolumbianische Künstlerin schaffte es, im gleichen Kunstwerk Fragilität und Brutalität zu vereinen. Bursztyn wurde 1933 als Kind polnischer Einwanderer in Bogotá geboren. Als Ausländerin, Jüdin und Feministin war sie in einem katholisch geprägten und konservativen Land stets eine Aussenseiterin – und in gewisser Hinsicht auch eine Pionierin. Sie schuf aus Metallteilen ausgedienter Alltagsobjekte wie Autos, Schreibmaschinen oder Küchengeräte Kunst. Mit ihren frühen, «Chatarras» (Schrott) benannten Arbeiten etwa betrieb sie eine Form von Recycling. Gerade das Schweissen als Technik war damals für eine weibliche Künstlerin unüblich. Durch die Verwendung von Altmetall thematisierte sie die Konsumgesellschaft und im gleichen Zug die Armut ihres Landes. Progressiv war auch ihre transdisziplinäre Praxis: Sie arbeitete schon früh mit Schriftsteller*innen, experimentellen Musiker*innen, Filmemacher*innen oder Theaterregisseur*innen zusammen. Auch der Beziehung von Natur und Kultur galt ihre Aufmerksamkeit. Und sie bezog bei ihren kinetischen Arbeiten stets die Betrachter*innen mit ein, sei es, dass diese mit den Werken interagieren konnten oder dass sie diese bewusst herausforderte und damit «einen Angriff auf die Passivität des Publikums» unternahm, wie die Kuratorin und Förderin Marta Traba (1930–1983) es ausdrückte. Ihr Werk und ihr kurzes Leben waren getragen von einer grossen Leidenschaft für die Kunst und ihre Verankerung im Leben. Ihre Radikalität erscheint heute in einem neuen Licht und macht deutlich, wie mutig ihr Wirken damals war.

 

«Feliza Bursztyn: Welding Madness», Installationsansicht (Foto: Annik Wetter, mit freundlicher Genehmigung des Muzeum Susch und der Arts Station Foundation)

Ihr als Rabbiner ausgebildeter Vater hatte als Textilfabrikant in Kolumbien Erfolg, was seiner Tochter ein Kunststudium in Bogotá und später in New York und Paris ermöglichte. Allerdings wurde sie aus ihrer religiösen Familie ausgeschlossen, als sie sich als junge Frau von ihrem Mann scheiden liess. Dieser wanderte mit den drei gemeinsamen Kindern in die Vereinigten Staaten aus. Zu diesen persönlichen Wunden kam ihre fragile Position als politisch und gesellschaftlich kritische Künstlerin hinzu. Sie wurde wiederholt von den staatlichen Sicherheitskräften verhört und festgenommen. Nach einer zweitägigen Inhaftierung im Jahr 1981 floh sie nach Mexiko und erhielt dort politisches Asyl. Kurz darauf emigrierte sie nach Paris, wo sie 49-jährig starb. 

 

Feliza Bursztyn in ihrem Studio in Bogotá, um 1980 (Foto: Raphael Moure, mit freundlicher Genehmigung des Archivs von Pablo Leyva)

Die Ausstellung «Welding Madness» in Susch zeigt den Werdegang dieser aussergewöhnlichen Künstlerin und sensibilisiert für die Modernität ihres Werks. Einen ersten Eindruck von ihren immersiven Installationen bekommen Besucher*innen schon im Erdgeschoss, wo in einem in Dämmerlicht getauchten Saal mehrere Stücke aus ihrer Serie «Las Camas» ausgestellt sind, die zwischen 1942 und 1974 entstanden. Diese Skulpturen bestehen aus metallenen Bettgestellen, die mit Motoren ausgestattet und mit Satinstoff drapiert sind. Die Vibrationen der Betten schaffen zum einen eine erotisch aufgeladene Atmosphäre und erinnern zum anderen an eine Art bewegte Version der Hysterie-Fotografien der Patientinnen von Jean-Martin Charcot (1825–1893) in der Salpêtrière-Klinik aus dem 19. Jahrhundert. Mit seinem Schüler Sigmund Freud prägte der Neurologe einen Hysterie-Begriff, der nur für Frauen zu gelten schien. Der befreienden Kraft der Erotik, die auch Freud – wenn auch einseitig – betont hatte, verlieh Bursztyn dadurch eine subversive und kritische Note. Auch mit der Wahl der Farben der Stoffe – in den Farben der kolumbianischen Flagge oder einem Bischof-Violett – schuf sie eine Symbolik, die gerade im katholisch geprägten Kolumbien als offener Angriff gelesen wurde. Den theatralischen Charakter der Installationen unterstrich sie mit Musik. Sie arbeitete verschiedentlich mit der experimentellen Musikerin und Komponistin Jacqueline Nova (1935–1975) zusammen, die wie sie sehr jung verstarb. 

 

«Feliza Bursztyn: Welding Madness», Installationsansicht mit Arbeiten, die aus Altmetall bestehen. (Foto: Annik Wetter, mit freundlicher Genehmigung des Muzeum Susch und der Arts Station Foundation)

Die Arbeiten ihrer späteren Werkgruppe «Las Histericas» (Die Hysterischen) bestehen zwar ebenfalls aus Metall, doch nicht mehr aus Schrott. Die biegsamen Metallstreifen versah die Künstlerin erneut mit Motoren, welche die Konstrukte in Bewegung versetzten. Die lärmenden Skulpturen, deren Titel auch ein Kommentar zu Freuds patriarchalischen Theorien waren, sollten bewusst verstören und stellten den statischen Begriff von Kunst infrage. Wunderbar abgründig und zugleich humorvoll sind auch die in einem der oberen Geschosse ausgestellten «Minimáquinas» (Minimaschinen), die fast wie kleine Lebewesen wirken. Auch hier spielte die mögliche Interaktion mit dem Publikum eine zentrale Rolle; heute dürfen die Objekte leider nicht mehr berührt werden. Bursztyns Arbeiten werden zu Projektionsflächen unserer Sehnsüchte und Ängste, die sich etwa in der Entfremdung von der Natur durch die Konsumwelt manifestieren. Zugleich bieten gerade ihre aus Alltagsgegenständen bestehenden Skulpturen einen Ausweg aus dieser unglücklichen Beziehung. Sie paaren Kritik mit Instrumenten zur Veränderung. Das Werk von Feliza Bursztyn weist auch darauf hin, dass viele Lösungsansätze schon in den 1970er-Jahren formuliert worden waren. Nur, dass diese zwischenzeitlich vergessen gingen. Höchste Zeit, sie uns wieder ins Bewusstsein zu rufen.

 

«Feliza Bursztyn: Welding Madness», Installationsansicht mit den «Minimáquinas» (Foto: Annik Wetter, mit freundlicher Genehmigung des Muzeum Susch und der Arts Station Foundation)
Die Ausstellung im Muzeum Susch ist noch bis zum 26. Juni 2022 zu sehen.

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