In Stein gemeisselt

Ulf Meyer
10. Juni 2021
Foto © Centro Internazionale di Scultura, Thierry Burgherr

Der Kanton Tessin verfügt über grosse Marmorvorkommen. Der Stein, der nach ganz Europa exportiert wird, wurde zum Beispiel an Mario Bottas bekannter Kirche San Giovanni Battista in Mogno, hoch oben im Lavizzara-Tal, dem hintersten Teil der Vallemaggia, verbaut. Er eignet sich auch hervorragend, um Skulpturen herzustellen. Kein Wunder also, ist das Tessin für Bildhauer eine wichtige Region. Besonders bekannt ist die in Peccia – wo sich übrigens auch der einzige Tessiner Steinbruch für weissen Marmor befindet – ansässige Scuola di Scultura, die 1984 eröffnet wurde. Sie zieht jährlich über 300 Kunstschaffende und Laien an. Über die letzten Jahrzehnte hat sie sich zu einem wichtigen Begegnungsort entwickelt, an dem unterrichtet wird, Ausstellungen gezeigt und Veranstaltungen abgehalten werden. 

Nun hat die Schule einen Neubau erhalten: Das Centro Internazionale di Scultura (CIS), entworfen von den Gebrüdern Bardelli und Davide Moranda (Bardelli Architetti Associati) aus Locarno, wurde am 2. Mai feierlich eröffnet. Über zwanzig Jahre vergingen zwischen der ersten Zeichnung und der Fertigstellung. Das CIS bietet Platz für Ateliers, Galerie- und Werkräume. Zur Eröffnung wurde eine Ausstellung des Bildhauers Jose Dávila aus Mexiko organisiert, und fünf Artists in Residence beziehen nun ihre Ateliers. Von allen Räumen hat man dabei einen schönen Blick auf die beeindruckende Landschaft des Südkantons mit ihren steilen Berghängen, den glitzernden Flüssen, grünen Wäldern und schroffen Felsen.

Foto © Centro Internazionale di Scultura, Thierry Burgherr
Foto © Centro Internazionale di Scultura, Thierry Burgherr

Die Künstler*innen wohnen in den Sommermonaten in der Casa degli Artisti in Studiowohnungen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden. Es handelt sich dabei um eines der ältesten Häuser im Ortskern, das extra für diesen Zweck restauriert wurde. 

Der Neubau lebt architektonisch vom Kontrast zwischen orthogonalen Formen in Metall und schrägen in Sichtbeton. Die auskragenden Pultdächer verschatten die Glasfassaden der Ateliers, sodass es auch während der heissen Sommermonate drinnen angenehm kühl bleibt. 

Die Anlage befindet sich gleich beim Ortseingang von Peccia. Direkt an der Kantonsstrasse gelegen, heisst sie alle willkommen, die nach Lavizzara fahren. Der Komplex besteht aus drei Teilen. An der Strasse liegt der Ausstellungsraum, der einen Betonsockel und ein leichtes Tragwerk aus Metall aufweist. Ein grosses Portal erschliesst die Ausstellungsfläche von der Strasse her. Innen wird der aussergewöhnlich hohe Raum von gefiltertem Tageslicht geprägt. Unter dem Ausstellungsraum liegen die Werkstätten der Künstler*innen. Vom öffentlichen Platz führt eine breite Freitreppe zum quadratischen Werkplatz, der auch über eine Fahrzeugrampe erreichbar ist, falls besonders grosse beziehungsweise schwere Steine herangeschafft werden müssen. Der Platz hat einen Bodenbelag aus Marmorgranulat. Mit einem Brückenkran können grossformatige Werkstücke von bis zu 20 Tonnen Gewicht gewuchtet werden. Im Süden ist der Platz von fünf Ateliers begrenzt. Ihre skulpturalen Volumina ragen über die Platzkante und orientieren sich zur wildromantischen Tallandschaft rundherum. Im Norden befinden sich unterdessen die Nebenräume und ein Büro. Die Architektur zeichnet sich durch Einfachheit und, wie bereits erwähnt, durch die Verwendung nur weniger Materialien aus: Beton und Stein aus der Vallemaggia für die Stützmauern und Pflaster sowie Metall für den Ausstellungsraum. Sämtliche Elemente hätten einen «industriellen Charakter, der die Künstler und ihre Werke anregen soll», so die Architekten. 

Foto © Centro Internazionale di Scultura, Thierry Burgherr

Am 1. Mai 2021 traf der Künstler Jose Dávilas, der in Mexico bei Luis Barragán Architektur studiert hat, mit Mario Botta zusammen. In seiner eingangs erwähnten Ausstellung und auch in der Kirche San Giovanni Battista, auf deren Gelände der Mexikaner ebenfalls ein Kunstwerk zeigt, diskutierten sie über Marmor und Architektur. Dávilas’ Arbeiten sind seit dem 4. Mai der Öffentlichkeit zugänglich. 

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