Manifeste manifestieren

Susanna Koeberle | 28. Februar 2025
Caroline Achaintre, »Roadrunner«, 2022 (Foto: Stefan Rohner, © Caroline Achaintre)

Lange dachte ich, das Verb »manifestieren« habe nur zwei Bedeutungen: In der reflexiven Version – sich manifestieren – ist es Synonym von »sichtbar werden«. Seltener begegnet einem die transitive, bildungssprachliche Verwendung im Sinne von »etwas zum Ausdruck bringen«. Bis ich merkte, dass eine dritte Variante in Umlauf gekommen ist: Manifestieren besagt in diesem Fall, dass man bestimmte Dinge bewusst beeinflussen kann, also dass es quasi möglich ist, durch Gedanken Wünsche Realität werden zu lassen. Dazu mache ich jetzt keinen Kommentar. Sondern nur eine »neutrale« Bemerkung: Sprache ist etwas Wandelbares, Fluides. Es könnte also ebenso gut sein, dass ich das Wort »Manifest« missverstehe. Oder dass ich diesbezüglich nicht ganz up to date bin. Mit diesem Begriff jedenfalls assoziiere ich etwas Starkes: eine Botschaft, eine Erklärung. In Kombination mit Kultur denke ich an bekannte künstlerische Manifeste, die Bestehendes hinterfragten und kritisierten, bewusst provozierten, einen Aufstand anzettelten oder eine Utopie in den Raum stellten. Wenn ich also den Titel »Textile Manifeste – Von Bauhaus bis Soft Sculpture« höre, dann schwebt mir so etwas vor. Und tatsächlich ist das bis zu einem bestimmten Grad so – aber leider nur bedingt. Über den Köpfen der Besucherin, die die große Halle des Museums für Gestaltung betritt, erstreckt sich eine Art Baldachin aus vielen bunten Stümpfen. Eine ortsspezifische Installation der deutschen Künstlerin Ulrike Kessel, welche die Themen Mode, Feminismus und die Beziehung zwischen Raum und Körper miteinander verbindet und so gesehen durchaus Manifestcharakter hat.

Lissy Funk, »Kleine Liebeserklärung«, 1989 (Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich/ZHdK, © Rosina Kuhn)

In der Mittelachse der Halle hängen noch mehr Arbeiten von der Decke, allerdings so nahe beieinander, dass der Eindruck eines textilen Dschungels entsteht, wie Direktor Christian Brändle zu Beginn der Medienführung treffend bemerkte. In diesem Teil wird Geschichte gleichsam im Rückwärtsgang erzählt. Man begegnet also den neuesten Arbeiten zuerst und stößt immer weiter in die Vergangenheit vor. Die Priorisierung der Gegenwart betont die Aktualität des Ausstellungsthemas. Denn wie in der Keramik ist seit einiger Zeit ein regelrechter Boom von textilen Arbeiten festzustellen. Und zwar sowohl in der Kunst als auch im Design beziehungsweise in der sogenannt angewandten Kunst. Man kann sogar von einer neuen Welle der Infragestellung einer klaren Grenze zwischen diesen beiden lange als Rivalinnen geltenden Gattungen sprechen. An dieser Stelle muss ich nochmals auf den Titel der Ausstellung zurückkommen. Denn in dieser Ansage liegt enormes Potenzial: Zu zeigen nämlich – oder mit anderen Worten zu manifestieren (!) –, dass die Trennung von freier Kunst und Kunstgewerbe häufig unerheblich ist. Eigentlich war sie es schon vor hundert Jahren, als die Künstlerin Sophie Taeuber-Arp ab 1916 die Textilfachklasse der Kunstgewerbeschule Zürich (heute ZHdK) leitete. Zugleich waren die Rollen und Aufgaben damals – und das blieb noch lange so – klar verteilt: Frauen wurde der Bereich des Kunstgewerbes zugesprochen. Damit war ihnen der Zugang zur Sphäre der Kunst verwehrt. Dies obschon dies genau das Gegenteil davon war, was Sophie Taeuber-Arp eigentlich vermitteln wollte. Und mit ihrem neuen Verständnis von Textilkunst auch tatkräftig umsetzte. 

Sophie Taeuber-Arp, Kissenplatte, 1916 (Foto: FX.Jaggy & U.Romito, Museum für Gestaltung Zürich/ZHdK, gemeinfrei)

Eine ihrer Schülerinnen war Elsi Giauque, eine Pionierin der Schweizer Textilkunst und unter der Direktion von Johannes Itten später selbst Dozentin für Textiles Gestalten an der Kunstgewerbeschule; auch einige ihrer räumlichen Werke sind in der Ausstellung zu sehen. Ebenso solche von bedeutenden Künstlerinnen der Zeit wie Gunta Stölzl oder Anni Albers, beide auch Bauhausschülerinnen. Die gezeigten Artefakte sind wunderschön, und auch an Informationen zu den Biografien dieser Protagonistinnen der Textilkunst fehlt es in der Ausstellung nicht. Dass diese Texte allerdings auf relativ klobige »Säulen« platziert wurden, mutet angesichts der dichten Präsentation in den seitlichen Trakten etwas absurd an. Überhaupt wirkt die gesamte Szenografie geradezu altbacken und ideenlos. Wo sind bloß die Manifeste hingekommen, fragt man sich immerfort. Da hilft es auch nicht, dass die historischen Exponate mit zeitgenössischen Arbeiten gemischt werden. Die thematischen Kapitel, die sich in der Medienmitteilung als »schöpferische Parolen« schmücken, geben subtile Hinweise auf die subversive Kraft der ausgestellten Werke, etwa »Social Fabric« oder »Stay Fluid«. Allerdings nimmt man die Titel am Boden kaum wahr. Und wenn, dann fragt man sich, weshalb das Lila dieser Bodenmarkierungen nicht für die Stellwände verwendet wurde. Die sind nämlich violett und verströmen den Charme eines ethnografischen Museums. Alles scheint in eine pseudospirituelle Atmosphäre getaucht zu sein, die die Textilien ihres eigenwilligen Ausdrucks beraubt. Gewisse Werk-Assemblagen funktionieren gut, auch vom kuratorischen Gesichtspunkt aus, andere Nachbarschaften erdrücken die Arbeiten mehr, als dass sie sich einander stärken würden. 

Marie Schumann, »Monofil Fold – rosé green«, 2022 (Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich/ZHdK, © Marie Schumann)

Die Fülle und Dichte der gezeigten Arbeiten überfordert und lenkt wie gesagt vom Thema Manifest ab. Das tut auch den Arbeiten der zeitgenössischen Künstlerinnen nicht gut, darunter wunderbare Werke von Stéphanie Baechler, Estelle Bourdet, Sheila Hicks, Marie Schumann oder Talaya Schmid. Letztere hat für ihre Installation Wolle aus dem Restbestand der Schweizer Künstlerin Lilly Keller (1929–2018) verwendet, in deren Atelier sie vor drei Jahren eine Residenz hatte. Kellers Werk ist ein typisches Beispiel dafür, wie weibliche Künstlerinnen, die textil arbeiteten, aus dem Kunstdiskurs ausgeschlossen wurden. Das war mitunter ein Grund, weshalb sich Lilly Keller später vom Weben abwandte und neue Materialien und Medien erprobte. Dass Textilien heute als gleichwertige materielle Träger von Kunst betrachtet werden, musste – von Frauen – hart erkämpft werden. Diese politische und soziologische Dimension widerspiegelt sich im Wort »Manifest« sehr gut. Einzig die passende Szenografie muss man sich dazu manifestieren.

Estelle Bourdet, »Échantillon Cordée«, 2023 (Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich/ZHdK, © Estelle Bourdet)

Vorgestelltes Projekt 

Gschwind Architekten AG BSA SIA

Instandsetzung Altstadthaus in Basel

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