Weggespart, angeleint, totgesagt – und doch vermisst

Elias Baumgarten
1. Dezember 2022
Foto: Elias Baumgarten

In Zeiten der Klimakrise, da das Gebot der Stunde ist, Ressourcen zu schonen, können wir uns schlechte Architektur nicht leisten. Wenn denn schon neu gebaut wird, sollten überzeugende Entwürfe umgesetzt werden, Gestaltungen, die die Nutzenden lange wertschätzen, pflegen und adaptieren. Der deutsche Architekt, Kurator und Autor Wilfried Wang schreibt im neuen Buch «On the Duty and Power of Architectural Criticism» (Park Books), es sei nicht länger akzeptabel, die Qualität von Bauten zu kompromittieren, um zum Beispiel schnellen Profit zu machen. Doch die Realität sieht anders aus: «However, the sad reality is that few people are concerned with questions of architectural quality. Neither politicians nor clients, nor even the majority of so-called architects, are interested in this issue.» Vor diesem Hintergrund erhält das kritische Schreiben über Architektur eigentlich neue Relevanz. Würde man nicht erwarten, dass Autor*innen gerade jetzt besonders eifrig zum Diskurs beitragen? Dass sie versuchen, eine Debatte über die Grenzen der Disziplin hinaus in Gang zu bringen wie zuletzt in den 1960er- und 1970er-Jahren? 

Doch das Schreiben über Architektur steckt in der Krise. Während die Bauindustrie weltweit nach wie vor in hohem Tempo neue Bauten aus dem Boden stampft, hat sich die Medienlandschaft verändert und die Architekturkritik steht am Scheideweg, wie Wilfried Wang schreibt. Tatsächlich haben viele Tageszeitungen ihre Berichterstattung über Architektur auf ein Minimum reduziert oder ganz gestrichen. Von ihren fachkundigen Kritiker*innen haben sich etliche inzwischen getrennt. Eine Entwicklung, die sich, nebenbei bemerkt, nicht nur auf den Architekturjournalismus beschränkt, sondern das Schreiben über Kulturthemen als Ganzes betrifft: Vom Feuilleton ist bei den meisten Zeitungen wenig übrig. Presseführungen und Besichtigungen sind mitunter kaum noch besucht, manche Museumsverantwortliche klagen, dass nur noch vereinzelt über die Arbeit ihrer Häuser gesprochen werde. Niedrige Honorare bringen freie Autor*innen in eine Zwickmühle: Fundierte Recherchen sind wirtschaftlich betrachtet nicht möglich – wer möchte bei aller Leidenschaft schon für prekäre Stundenlöhne arbeiten? Selbst die Fachpresse begnügt sich zu oft mit Pressetexten und schönen Bildern – aus Mangel an Ressourcen, aber zuweilen auch aus bewusster strategischer Entscheidung. Wang kritisiert vor allem Onlineplattformen für die bedenkenlose Veröffentlichung der Beschreibungstexte von Architekturbüros und die prominente Platzierung ihrer Werke gegen Geld ohne Kuratierung.

Doch es gibt noch andere Ursachen für die Misere. Fundierte Texte werden leider vergleichsweise wenig gelesen. Selbst Expert*innen diskutieren allzu oft lieber über Überschriften und Bilder, statt Artikel aufmerksam zu lesen, wie uns vai-Direktorin Verena Konrad im Interview sagte. Mässige Leserzahlen machen es wirtschaftlich schwer, den grossen Aufwand zu rechtfertigen. Zudem reichen die Reaktionen auf kritische Gebäudebesprechungen und Kommentare oder auch Interviews mit unliebsamen Persönlichkeiten von Anfeindungen über Einschüchterungsversuche bis hin zu Drohungen. Eine vergiftete Diskurskultur, die es zum Beispiel in der Literaturwelt, die deutlich bissigere Kritiken kennt, nicht gibt, wie uns Deutschlands führende Literaturkritikerin Insa Wilke berichtete. Nicht alle Autor*innen haben das Nervenkostüm, sich dem dauerhaft auszusetzen. 

«Tatsächlich jedoch verunmöglichen viele Büros Kritik heute schon im Halbsatz. Das ist richtig mühsam! Seit zehn Jahren schreiben wir vom vai im Rahmen der wöchentlichen Coverserie ‹Leben & Wohnen› in der Tageszeitung Vorarlberger Nachrichten über verschiedenste Bauten und besprechen die Entstehungsgeschichten dahinter. Obwohl es sich um Best-Practice-Beispiele handelt, die entsprechend wohlwollend dargestellt werden, wird ständig versucht, Einfluss zu nehmen und zu kontrollieren.»

Verena Konrad im Interview mit Swiss-Architects

Foto: Elias Baumgarten

Gegensteuer geben könnte «On the Duty and Power of Architectural Criticism». Die umfangreiche Aufsatzsammlung entstand basierend auf einer internationalen Online-Konferenz im vorigen Jahr. Die Beiträge beleuchten Verantwortung und Wirkungsmöglichkeiten der Architekturkritik aus allen erdenklichen Perspektiven. Christophe Van Gerrewey etwa erklärt, wie ein Gebäude zum Werkzeug werden kann, um weiterführende Erkenntnisse zu gewinnen. Als Anschauungsbeispiel dient ihm das Rolex Learning Center in Lausanne von SANAA (2010), an dem sich Aussagen zur Entwicklung von Arbeit und Freizeit, von Bibliotheken und Bürowelten, zur Veränderung des akademischen Lebens und zur Beziehung zwischen japanischer und westlicher Kultur festmachen lassen. Kenneth Frampton widmet sich derweil den Verknüpfungen zwischen Architektur, Politik und Kritik und verbindet dies mit einem Einblick in seine persönliche Entwicklung als Historiker und Theoretiker. Zheng Shiling wiederum zeigt in seinem Aufsatz «The End of Architectural Criticism» unter anderem, welche Rolle Architekturkritik in China spielt.

Die Essays in englischer Sprache sind anspruchsvoll und erfordern Konzentration. Was die Freude an der intellektuellen Auseinandersetzung aber trübt, ist die Buchgestaltung voll Monotonie, der Spannung und Rhythmus fehlen. Viele Seiten mit wenig Weissraum, riesenhafte Pagina und Gestaltungselemente, die sich gegenüber dem Text in den Vordergrund drängen, missfallen. Wirklich mühsam sind jedoch die für lange Texte unpassende Schriftauswahl (Neue Haas Grotesk in light) und die Art, wie der Text gesetzt wurde. Das Auge findet kaum Halt, die Wörter verschwimmen mit der Zeit zu einem Brei aus Buchstaben. Gerade bei einem Buch, das von seinen sorgfältig durchgearbeiteten Texten lebt und gründlich gelesen werden will, ist das unverständlich.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten

Trotzdem dürften gerade jene, die selbst leidenschaftlich über Architektur nachdenken und schreiben, «On the Duty and Power of Architectural Criticism» gerne lesen. Die Beiträge von Wilfried Wang und den übrigen Autor*innen stimmen nachdenklich, inspirieren aber auch. Einigen Kritiker*innen verschaffen sie vielleicht sogar frische Motivation.

On the Duty and Power of Architectural Critisim

On the Duty and Power of Architectural Critisim
Wilfried Wang (Hrsg.)
Beiträge von Kenneth Frampton, Philippa Tumubweinee, Ruth Verde, Zein Zheng Shiling. Elias Constantopoulos, Manuel Cuadra, Fernando Diez, Helene Janniere, Li Xiangning, Robert McCarter, Valerio Paolo Mosco, Louise Noelle Gras, Şengul Oymen Gur, Xing Ruan, Paolo Scrivano, Ana Tostoes, Carolina Chaves Błażej Ciarkowski, Carlos Eduardo Comas, Marcos Almeida, Paolo Conrad-Bercah, Claudia Costa Cabral, Ozlem Erdoğdu Erkarslan, Murat Burak Altınışık, Mustafa Batu Kepekcioğlu, Jasna Galjer, Christophe van Gerrewey, Berna Gol, Kristen Harrison, Martin Hartung, Morten Birk, Jorgensen Kevin Low, Konstantinos Petrakos, Jaime Solares, Alexandra Staub, Horacio Torrent, Konstantinos Tsiambaos, Caroline Voet, Lynnette Widder, Seda Zafer und Wilfried Wang

190 x 270 Millimeter
320 Seiten
336 Illustrationen
Paperback
ISBN 9783038602712
Park Books
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Literaturkritikerin Insa Wilke im Interview

Verena Konrad im Gespräch über die Arbeit des Vorarlberger Architektur Instituts

Einst galt die Reportage als die Königsdisziplin des Journalismus, doch heute ist sie eine vom Aussterben bedrohte Gattung. Dabei zeigen die Beiträge der Schweizer Journalistin Margrit Sprecher, dass Texte mehr Kraft entfalten können als Bilder.

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