Ein Ausdruck von Anstand?

Inge Beckel
12. Januar 2017
Alte Fenster als zweite Haut, Europarat, Brüssel, 2015, Philippe Samyn Architekten. Bild: Architekten

Dies vorweg: Für 10 Kilogramm eines industriell gefertigten Produkts – wie etwa Beton – braucht es 300 Kilogramm aus der Natur! Réemploi oder reuse also sind nichts weiter als Gebote der Stunde. Nun ist der Unterschied einer Wiederverwendung gegenüber dem Recycling, dass bei letzterem Materialien auf der Abbruchstelle getrennt und in Wiederverwertungszyklen eingebracht werden. Sie werden damit zu Rohstoffen, zu Komponenten, um daraus Neues zu schaffen – unter Einsatz von Energie. Dies entgegen wiederverwendeten Baustoffen oder -teilen. Hierbei werden die alten Elemente, die aus einem Rückbau oder bei einem Umbau gewonnen werden, belassen und möglichst als ganze Teile neu verbaut respektive eingebaut.
 
Matière grise
Die Ausstellung Matière grise kommt aus Frankreich, der Titel bedeutet: (denkende) graue Hirnzellen. Hinsichtlich der Weiterwertung alter Bauteile und Materialien gelten in der EU strengere Richtlinien als hierzulande. Die Ausstellung wurde 2014 erstmals in Paris im Pavillon de l'Arsenal gezeigt, aufbauend auf einem Konzept vom Architektenkollektiv Encore Heureux. Für Zürich wird die Präsentation durch Schweizer Beispiele angereichert. Nun gibt es Bauteilbörsen schon seit dem späten 20. Jahrhundert, auch in der Schweiz. Bauteilbörsen sind entweder als Läden oder Lager organisiert, wo Bauteile aus Abbrüchen respektive Rückbauten hingebracht und zum Verkauf angeboten werden. Ein internationales Beispiel etwa ist die Plattform Rotor aus Belgien, die sich seit 2005 für «in Umlauf bleibende» Materialflüsse einsetzt. Ein hiesiges Beispiel ist Salza – ein Projekt des Zürcher Architekten Olivier de Perrot, der die Schau an der ETH Zürich kuratiert. Salza ist eine Onlineplattform, die als Vermittler zwischen Bauträgerschaften, die einen Umbau oder Abriss vorhaben, und den planenden Architekten fungiert. Sie bringt Anbieter und Nachfrager direkt in Kontakt.

Die alte Posttheke im Vordergrund, die Fallblatt-Anzeige im Hintergrund, Restaurant Hiltl in der alten Sihlpost, Zürich, 2016, Innenarchitektin Ushi Tamborriello. Bild: Architektin

Vintage
Vintage bedeutet gebraucht. Vintage ist nicht neu. Dass Altes keineswegs schäbig, sondern vielmehr hip sein kann, zeigt der Vintage-Boom in den Bereichen Design oder Mode schon seit längerem. Altwaren aus der Architektur demgegenüber sind naturgemäss schwerfällig und brauchen Platz – etwa zur Zwischenlagerung. Vintage ist in dieser Disziplin noch nicht wirklich hip. Doch auch diese Idee ist nicht neu. So baute Rudolf Olgiati bereits in den 1970er-Jahren in zahlreiche seiner weissen, regionalistisch verankerten Wohnhäuser alte Türen ein, die er in der Region gefunden und durch ihre Wiederverwendung gerettet hat. Aktueller und sehr viel grösser ist das neue EU-Ratsgebäude in Brüssel vom Büro Philippe Samyn, das jüngst fertiggestellt wurde. Die neue Aussenfassaden sind vollflächig aus alten, gerahmten Fenstern aufgebaut, wodurch sich ein Patchwork – oder eine Art Quilt – aus in der EU zusammengetragenen Stücken mit kleineren oder grösseren Glasflächen ergibt.

Vintage hat mit Atmosphäre und Ambiente zu tun. Vintage ist das Gegenteil von «frisch ab Presse» oder «aus dem Ei gepellt». Vintage hat ein Vorleben. Zeichen dafür ist etwa eine Schramme oder ein Fingerabdruck, vielleicht ein Kleber, eine leichte Verfärbung – irgendetwas, das ursprünglich nicht dort hingehörte. An diesem Anderen, an diesem Bruch oder Nicht-Normalen aber bleibt unser Auge hängen, dieses Etwas erinnert uns möglicherweise an etwas Persönliches. Verglichen mit dem perfekten Neuen sind solche Zeichen eigentliche Störungen. Man kann sich auch an Ornamente erinnert fühlen. Es sind Aufdrucke, Ergänzungen oder Unterteilungen, die die Grösse und «Reinheit», ja zuweilen Gleichförmigkeit des übergeordneten Ganzen brechen. Dabei handelt es sich meist um Massstabssprünge. Denn es sind die einzeln zusammengetragenen Fenster der Ratsfassade in Brüssel, die den Gang des Fussgängers auf dem Trottoir begleiten; die Dimension der ganzen Fassade kann er beim Vorbeigehen nicht erfassen.

Einfamilienhaus in Basel, von Pierre de Meuron mit den Architekten Charlotte von Moos und Florian Sauter: Verkleidung aus wiederverwendeten Tafeln. Bild: Rolf Frei/Architekten

Spurensuche
Vintage-Teile also haben eine Geschichte. In der Denkmalpflege respektive in der Geschichte wird hierbei zuweilen von Spolien gesprochen. Spolien sind Bauteile oder Überreste aus Reliefs oder Skulpturen, Säulen oder Kapitellen, die aus älteren Bauten stammen – teilweise gar aus Bauten älterer Kulturen – und in neuen Bauwerken wiederverwendet werden. Es sind Spuren im Neuen, die auf historisch Älteres, sinngemäss auf ältere Schichten verweisen. Verwendet man in der Architektur generell Teile eines alten Gebäudes, ergibt sich eine Art Genealogie des Gebauten. Vor allem, wenn die Bauteile oder Spolien aus Gebäuden stammen, die an demselben Ort oder in der Umgebung standen. Ihre Wiederverwendung kann künftigen Historikerinnen und Archäologen bei der Aufarbeitung einer Ortsgeschichte helfen, indem eben just verschiedene Baugenerationen ihre Spuren im aktuellen Bau oder Bauensemble hinterlassen.

Als Beispiele aus der Ausstellung sei etwa die Architektin Jeanne Gang vom Studio Gang Architects erwähnt, die für einen Neubau eines SOS-Kinderdorfes in Chicago 2007 alte Materialien verschiedener Körnig- und Farbigkeit verwendet und daraus eine Betonaussenwand aufgebaut hat. Diese sieht beinahe wie ein geologischer Schnitt durch einen Bodenaufbau aus. Oder wiederverwendete Vertikallatten, aus denen die neue Fassade am Musée maritime von Mecanoo architecten in Oudeschild auf der niederländischen Insel Texel aus dem Jahr 2011 realisiert sind. Oder alte Kolonnaden eines Autobahn-Viadukts, die in Massachusetts, USA, eine neu erstellte Villa strukturieren. Oder auch Teile aus einem Mosaik-Boden, die aus einer ehemals repräsentativen Zürcher Bürgervilla stammen, die als Sammelstücke des Bauteil-Jägers Antony E. Monn zu sehen sein werden.

Ausstellungsstrasse 21 in Zürich von KORY Architekten, 2002. Als Verkleidung der Seitenfassaden der Dachlukarnen wurden die ehemaligen Estrichlattungen wiederverwendet – trotz Widerstand des Zimmermannes und ohne Mehrkosten. Bild: R. Zimmermann / Umbauen + Renovieren

Gegen den Verschleiss
Nochmals: Für 10 Kilogramm eines industriell gefertigten Bauprodukts braucht es 300 Kilogramm aus der Natur. Wiederverwertung wird eine Notwendigkeit. Denn wie vor rund 40 Jahren mit dem Erdöl, wird es auch bezüglich anderer Rohstoffe eine Spitze geben, einen Zeitpunkt, an dem die Ressource erschöpft ist – oder ausschliesslich unter grossem Aufwand gewonnen werden kann. Man denke nur an den Sand zur Herstellung von Beton. Doch muss man sich etwas daran gewöhnen, alte Teile in «frischer» Architektur wiederzuverwenden. Letztlich ist es wohl eine Frage der persönlichen Haltung. Die Ausstellung in der Haupthalle der ETH Zürich Zentrum soll damit – neben der Dokumentation von spannenden und überraschenden Beispielen – vor allem Mut machen, neue Denkansätze zu wagen.

Doch zum Abschluss dies: Wiederverwendung muss keine «Bastelei» sein, keine Bricolage, die nach Amateurhaftigkeit schmeckt. Auch soll einen nicht das schlechte Gewissen antreiben, Wiederverwendung in seine Entwurfsarbeit einzubeziehen, sondern vielmehr die Lust am Spielerischen, am Ornament und am Experiment. Zudem stellt sie eine Würdigung und Wertschätzung der grossen und vielen kleinen Geschichten all der alten, nunmehr ausgedienten Gebäude und ihrer Erbauer dar.

Alte Ziegel für neue Bürotrennwände, Madrid, 2009, Architekt Arturo Franco. Bild: Architekten

Die Ausstellung in der Haupthalle der ETH Zürich Zentrum dauert vom 21.–28. Januar.

Am Montag, 23. Januar um 18.30 Uhr spricht Professor Hans-Rudolf Meier von der Bauhaus-Universität Weimar zur «Wiederverwendung von der Antike zur Gegegnwart»;
am Dienstag, 24. Januar um 18.30 Uhr findet ein Podiumsgespräch zu «Wiederverwendung: Ein neues Konzept in der Architektur?» statt; es debattieren Prof. Tom Emerson von der ETH Zürich, Olivier de Perrot vom Salza, Julien Choppin vom Pariser Büro Encore Heureux, Franz Adam von der Baudirektion des Kantons Zürich sowie der Bauteil-Jäger Antony E. Monn, moderiert wird die Runde von Sabine Ziegler von Salza;
am Donnerstag, 26. Januar um 18h30 führen die Architektin Maya Karácsony und die Umweltwissenschafterin Sabine Ziegler durch die Ausstellung.

Alle Veranstaltungen finden in der Haupthalle der ETH Zürich Zentrum statt.

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