Ein Besuch im Osten

Juho Nyberg
13. Oktober 2016
Pionier des Betonbaus: Lokremise in St. Gallen. Bild wikicommons/Gidoca

Auf dem Weg von Bern nach Zürich durchquert man mit dem Zug das Mittelland, ein zumeist nicht sehr genau definiertes Gewebe aus unterschiedlichsten Nutzungen: Landwirtschaft, Gewerbe, Wohnen. Irgendwo zwischen Baden und Zürich verdichtet sich das Gewebe und zieht sich – von einigen fadenscheinigen Stellen abgesehen – in dieser dichten Form weiter bis nach Winterthur. Doch gleich hinter der ehemaligen Lokomotiv-Metropole findet man sich alleine auf weiter Flur wieder. Einzelne kleine Ansammlungen von Häusern ziehen am Fenster vorbei, höhere Wohnhäuser stehen nur als verlorene Solitäre da inmitten der ruralen Landschaft zwischen Dörfern, Weihern und Wäldern.

Sitterviadukt als Vorbote der Stadt. Bild: wikicommons/memoria st.gallen

Jäh endet die ruhige, hügelige Landschaft am Sittertobel, zur Rechten parallel von einer kühnen Stein-Stahl-Brücke aus dem frühen 20. Jahrhundert, dem Sitterviadukt, überwunden. Östlich des Tobels beginnen sogleich vorstädtische Strukturen, die sich zusehends verdichten. Wohnhäuser und Lagerschuppen, hinter denen noch grasende Kühe zu sehen sind, säumen das Gleisfeld, bevor Kirchtürme und Hochhäuser das Zentrum markieren. Angekommen in Sankt Gallen.
 
Mit gut 75'000 Einwohnern ist Sankt Gallen das urbane Zentrum im Nordosten der Schweiz mit einer langen Geschichte. Die Stiftskirche mit Kloster und der weltbekannten Stiftsbibliothek trägt ebenso zur Bedeutung und Identifikation der Stadt bei wie auch die Tradition der Textilindustrie mit ihren Stickereien. Obwohl beide grosse Veränderungen mitgemacht haben, sind sie noch immer gegenwärtig im Alltag und werden im Gespräch von den Sankt Gallern gerne erwähnt.

Pionier des Betonbaus: Lokremise in St. Gallen. Bild wikicommons/Gidoca

Erste Zeugen der wirtschaftlichen Blütezeit der Textilindustrie finden sich gleich am Bahnhof inmitten der Stadt. Die Lokremise auf der Nordseite wurde 1903–1911 in Eisenbeton von Carl Moser erbaut. Zu jener Zeit existierte gar eine direkte Eisenbahnverbindung von Sankt Gallen nach Paris! Die rasche technische Entwicklung der Eisenbahn machte einzelne Elemente der Anlage, etwa den Wasserturm und später auch die Drehscheibe vor der Remise, überflüssig. Mit dem Umbau durch Stürm Wolf Architekten wurde sie nach zahlreichen temporären Nutzungen zu einem ständigen Kulturzentrum umgebaut und beherbergt seit der Fertigstellung 2011 neben einem Restaurant ein Theater, Kino und eine Galerie.
 
Gleich hinter der Remise erhebt sich der Rosenberg. Zuoberst ist die HSG, Hochschule St. Gallen, zu finden, deren Kernstück die 1963 erstellten Bauten von Walter Maria Förderer mit Rolf Otto und Hans Zwimpfer sind. Spätere Ergänzungen des Campus zeugen von einem anderen Architekturverständnis, die Postmoderne hat sich in Sankt Gallen weit deutlicher ausgetobt als in anderen Schweizer Städten.

Als sehr gelungener Bau aus der neueren Zeit befindet sich dagegen gleich neben dem Campus der Hauptsitz der Helvetia Versicherungen aus der Feder von Herzog&deMeuron. Die drei bis 2004 fertiggestellten Gebäude werden derzeit gerade durch den vierten und letzten, westlich liegenden Teil ergänzt. Einzug in den rund 130 Arbeitsplätze beherbergenden Bau ist für den Juni 2017 geplant.

Rendering des Helvetia-Hauptsitzes auf dem Rosenberg. Bild: © Herzog&deMeuron via Helvetia
Aktueller Stand der Bauarbeiten am Helvetia-Hauptsitz in St. Gallen. Bild: Helvetia

Der Fuss des Rosenbergs ist ein stark frequentierter Verkehrsknotenpunkt. Ein- und Ausfahrten zur Autobahn verflechten sich hier und verschwinden im Inneren des Bergs. Darüber thront seit 2012 das Bundesverwaltungsgericht von Staufer & Hasler Architekten und markiert zugleich den Abschluss des Feldli-Quartiers.

Zwischen Gericht und Remise sollte nach Plänen von Caruso St John ein markanter, gestufter Neubau entstehen. Doch dem Siegerprojekt des Wettbewerbs von 2012 sollte die Villa Wiesental weichen, was in der Bevölkerung auf breite Ablehnung stiess und letztlich auch vom Sankt Galler Stadtrat abgelehnt wurde. Nachdem die Grundeigentümerin HRS Real Estate zu Beginn dieses Jahres mit einem neuen Projekt vom Büro Pfister Schiess Tropeano, das die Villa weiter bestehen liesse, ebenfalls einen abschlägigen Entscheid erhalten hatte, steht die Planung an diesem markanten Ort vorerst still.

Altarraum der Kathedrale St. Gallen von Caruso St John, Modellaufnahme. Bild: via sg.kath.ch

Hingegen haben Caruso St John auf der anderen Seite der Stadt schon ihre Spuren hinterlassen. Sie gewannen den Wettbewerb zur Neugestaltung des Altarraums der Kathedrale, die Weihe nach der Fertigstellung fand am 29. September 2013 statt. Auch ausserhalb des sakralen Raums hat sich das Klosterviertel erneuert. Mit einer durchgehenden Pflästerung vom Bären- bis zum Gallusplatz wurde dieser wichtige Teil des Stadtzentrums auf feine Art zusammengefasst.

Der homogene Bodenbelag lässt sich als historisch bezogene Reverenz an die bekannte rote Stadtlounge von Pipilotti Rist und Carlos Martinez lesen. Letztere Installation markierte den Abschluss der Neubauarbeiten der Raiffeisenbank an der Schreinerstrasse, bereits etwas ausserhalb der Altstadt. Die Idee hinter der Gestaltung war es, ein «öffentliches Wohnzimmer» zu schaffen, was durchaus gelungen ist. Die Akzeptanz der St. Gallerinnen und St. Galler ist gross.

Stadtlounge von Pipilotti Rist und Carlos Martinez. Bild: wikicommons/Andreas Praefcke

Die Stadt erscheint insgesamt als sehr kompakte Einheit. Dies mag auch daran liegen, dass kein Gewässer durch die Stadt fliesst. Die Sitter liegt weit unten im Tobel, weitgehend unbemerkt. Ebenfalls etwas ausser Sichtweite liegen auf dem Freudenberg, der die Stadt südlich begrenzt, die Drei Weiheren. Ursprünglich als Trink- und Löschwasserreservoir gedacht, werden sie heute als Freibäder und Eislaufflächen genutzt. Von hier aus lässt sich die ganze Stadt über die Altstadt, die Lokremise und den Rosenberg überblicken – bei gutem Wetter bis hin zum Bodensee in der Ferne.

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