Gemeinschaftswerke

Inge Beckel
16. Mai 2013
Aus dem Newsletter von Toni Rüttimann vom Dezember 2012 (Screenshot).

Der Mehrzwecksaal im Schulhaus der Bündner Gemeinde Cazis war zum Bersten voll. Sogar auf der seitlichen Tribüne standen die Menschen in Reihen. Hektik herrschte, einmal wohl wegen der Enge, vielleicht auch, da es der Montag Anfang März war, nachdem am Wochenende die «Abzockerinitiative» mit Zweidritteln angenommen worden war. Ob gewollt oder zufällig, jedenfalls war der dann folgende Vortrag eine Art Antithese zu den Diskussionen der voran gegangenen Wochen. Worum gehts?

«Den Menschen über den Fluss helfen»
1967 im Engadin geboren, besuchte Toni Rüttimann nach der Grundschule das Lyceum Alpinum in Zuoz. Als er nach der Matura von einem durch ein Erdbeben zerstörten Gebiet in Ecuador hörte, meldete er sich kurzentschlossen zu einem Sozialeinsatz. 19Jährig reiste er alleine nach Südamerika, wo er zusammen mit einem holländischen Ingenieur Brücken reparierte. Wenn man sehe, wie die Menschen an den Ufern der Flüsse stehen würden und wegen der herunter gerissenen Brücken und Stege entweder mühsam durch das Wasser wateten oder gar nicht auf die andere Seite gelangten, dann habe er einfach den Wunsch gehabt, den Menschen über den Fluss zu helfen, berichtete er an jenem Märzabend.

Nach dem Einsatz reiste er zurück in die Schweiz und begann ein Studium zum Bauingenieur an der ETH in Zürich. Doch Toni Rüttimann war kein ganz «normaler» junger Mann. Denn der junge Student überlegte, ob ihm in den Jahren in der Schweiz nicht eine geheizte Wohnung, der wöchentliche Abend beim Sportverein oder eine liebe Freundin zu sehr ans Herz wachsen könnten, so dass er als diplomierter Ingenieur dann vielleicht nicht mehr zurück zu den Menschen im Dschungel reisen würde … Doch das wollte er in jedem Fall! So entschloss er nach sechs Wochen, das Studium abzubrechen. Er verabschiedete sich von seinen Eltern und Freunden und flog erneut nach Ecuador.

Eine frühe Brücke in Sucumbíos in Ecuador. Bild: flickr/arturohortas

Recycling
Sein Schweizer Mittelschulwissen genüge für die einfachen Brücken, die er seit nunmehr 25 Jahren baue, sagt er dazu. Doch wie sollte er damals vorgehen? Er war entschlossen – Geld aber hatte er keines. Nachdem er auf dem Gelände einer Erdölfirma Berge von nicht mehr gebrauchten Stahlröhren gesehen hatte, sprach er mit den Verantwortlichen und bat sie, ihm diese zu überlassen. Was diese taten. Er machte weiter und suchte nach Seilen – bis er hatte, was er insgesamt brauchte. Alleine jedoch konnte und kann er die Brücken selbstverständlich nicht bauen; vielmehr sind es Gemeinschaftswerke mit den Einheimischen, die die Brücken recht eigentlich bauen. Zu Beginn war es auch deren Aufgabe, das Holz für die Planken auf den Gehflächen zu besorgen.

Einer jedoch begleitete den inzwischen Toni el Suizo Genannten über Jahre von Baustelle zu Baustelle, der Ecudorianer Walter Yánez. Seit Rüttimann selbst nunmehr vor allem in Südostasien unterwegs ist, vertritt ihn Yánez in Südamerika vor Ort und leitet die Baustellen. Denn als Rüttimann einmal in der Schweiz einen Vortrag hielt – wie er dies ja noch immer regelmässig tut (vgl. etwa auch hier) –, kam ein Mann auf ihn zu und bat ihn, mit ihm in seine alte Heimat zu fliegen. Rüttimanns Werk sei grossartig! Auch in Kambodscha könnte der Alltag unzähliger Menschen derart erleichert werden. Inzwischen war oder ist Rüttimann in 13 Ländern in Süd- und Mittelamerika sowie in Südostasien tätig.

Eine jüngere Brücke in Vietnam. Bild: novinky.cz

Ein Typus
Vor gut zehn Jahren erkrankte Rüttimann. Innerhalb nur weniger Tage war er bis zum Hals gelähmt. In einem Spital in Thailand wurde das Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert. Sein Immunsystem hatte sich fälschlicherweise gegen den eigenen Körper gewendet anstatt gegen den Schädling. Nachdem die Lähmung gestoppt worden war, konnte die Heilung einsetzen. Die Regeneration dauerte aber über zwei Jahre. Gleichzeitig waren mehrere Brücken in Bau. Was also konnte Rüttimann tun? Er stellte ein einfaches Computerprogramm auf, wobei er anfänglich die Tastatur über einen Stift im Mund bedienen musste. Das Programm ist inzwischen ein wesentlicher Baustein seiner Arbeit.

Ist Rüttimann in Asien, sendet Walter Yánez die erforderlichen Daten des Ortes in Südamerika, wo eine neue Brücke gebaut werden soll. Er macht die Berechnungen und sendet die Daten zurück. Denn die mit der Landbevölkerung errichteten Brücken sind weder Erfindungen noch Unikate. Vielmehr ist sinngemass ein Typus entstanden, eine Hängebrücke, die in ihrer Art wieder und wieder erstellt werden kann. Es sind Fussgängerbrücken, die auch Töfflis queren. Für Autos sind sie zu schmal. Die begrenzte Verfügbarkeit von Materialen und beschränkte Techniken haben einen Brückentyp hervorgebracht, der durch die Erfahrung der Jahre kleine Verbesserungen erfahren hat, im Grundsatz aber derselbe bleibt.

Heute werden anstelle von Holzplanken Stahlplatten verlegt. Bild: novinky.cz

«No Logo»
Was sich in jüngerer Zeit geändert hat, sind die Gehflächen. Es sind keine Holzplanken mehr, sondern sie werden aus Metallplatten gelegt. Denn etwas Wesentliches hat sich im Laufe der Jahre sehr wohl verändert: Toni Rüttimann muss das Material nicht mehr zusammenbetteln respektive zusammensammeln. Die Seile beispielsweise erhält er von Schweizer Bergbahnen, denn hierzulande werden diese ersetzt, hängen sie mehr als 4% durch. «Da bleiben uns 96%», meinte er dazu schmulzend. Auch er würde aber einen sechsfachen Sicherheitsfaktor einberechnen. Und dadurch, dass die Bevölkerung ihre Brücke selbst baut, trägt sie auch Sorge zu ihr. Unterhalt findet fortwährend statt.

Neben den Bergbahnen hat Rüttimann einen anderen, ausländischen Sponsor, einen Besitzer eines grösseren Stahlbauunternehmens. Dieser beliefert seine Baustellen heute mit den nötigen Stahlröhren und den Platten. Der Unternehmen will nicht, dass das Logo der Firma auf den Bauteilen erscheint. Auch werde der Betrag des geschenkten Materials dessen Privatkonto belastet, so erzählte Rüttimann. Doch findet der Unternehmer das Engagement des ungewöhnlichen Brückenbauers vorbildlich. Und will es unterstützen. Basta. Es ist ein Engagement, das nicht top down funktioniert, sondern bottom up. Gebaut wird stets ein Gemeinschaftswerk – auf Wunsch, für und mit der lokalen Bevölkerung.

Alle über 600 sind ausschliesslich Fussgänger- und Velobrücken. Bild: novinky.cz

Alltäglich und doch ungewöhnlich
Die Hängebrücken sind sicherlich nicht schwingungsfrei; auch in anderen Punkten genügen sie Schweizer Anforderungen nicht. Doch dienen sie täglich vielen Menschen meist armer Landbevölkerungen, die in Regierungskreisen kaum Lobbys haben. Die Brücken sind keine Prestigeobjekte, vielmehr Alltagsgegenstände. Alltagsgegenstände, die gleichzeitig ungewöhnlich sind.

Auch die Macher sind nicht gewöhnlich. Rüttimann selbst weiss nicht genau, was er und seine Mitstreiter sind: «Wir sind keine NGO, keine Firma, keine politische oder religiöse Gruppierung; wir haben weder ein Büro, ein Zuhause, eine Fahne noch einen Facebook-Account.» Sicherlich sind sie in der einen oder anderen Art Idealisten. Und in jedem Fall bauen sie an einer ungewöhnlich schönen Geschichte. Die so wohltuend anders ist.

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