Kunsthaus Zürich zeigt «Architektur im Bild»

Zwischen naturgetreuem Abbild und reiner Fantasie

Kunsthaus Zürich
21. Juli 2016
Max Ernst, La ville entière, 1935/36. Öl auf Leinwand, 60 x 81 cm, Kunsthaus Zürich, © 2016 ProLitteris, Zürich

Die Ausstellung in der Reihe «Bilderwahl!» mit Werken aus der Sammlung des Kunsthauses Zürich richtet den Blick zunächst auf die klassische Stadtvedute, die Zeugnis ablegt vom Aussehen eines Ortes, aber auch zum Erinnerungs- und Sehnsuchtsbild des Betrachters heranwachsen kann. Ausserdem zeigt die Ausstellung, wie die Konstruktion von Architektur im Bild zum Spielfeld für Utopien und Visionen wird. Zwischen diesen beiden Polen – dem naturgetreuen Abbild und der reinen Fantasie – haben Künstler in den vergangenen Jahrhunderten verschiedene Facetten des Architekturbildes dargestellt. Nicht immer lässt sich dabei eindeutig definieren, was Realität ist und was Vision, wie am Beispiel von Max Ernst sichtbar wird, dessen surrealistisches Bild «La ville entière» (1935/36) im Zentrum der von Gastkuratorin Manuela Reissmann konzipierten Ausstellung steht.
 

Bernardo Bellotto, Die Ruinen der Kreuzkirche in Dresden, 1765. Öl auf Leinwand, 84,5 x 107,3 cm, Kunsthaus Zürich, Stiftung Betty und David Koetser

Die visionäre Stadt
Mit «La ville entière» malte Max Ernst eine Architektur, die wie aus einem Traum geboren scheint und an antike Tempelanlagen, Festungen oder den Turm zu Babel erinnert. Über einer ruinenartigen Burg wirft ein grosses Gestirn ein fahles Licht auf die Szenerie. Im Vordergrund rankt sich eine wilde Vegetation, in der sich hier und dort dämonenartige Wesen verstecken. Mitte der 1930er-Jahre entstanden, wird das Bild zur zeitkritischen Metapher: Angesichts der sich zuspitzenden Bedrohung eines weiteren Weltkrieges wachsen die Ängste vor dieser neuerlichen Katastrophe. Im Rückgriff auf eine an vergangene Kulturen gemahnende Architektur zeichnet Ernst in der Darstellung dieser leblosen Stadteine Zukunftsvision, die eine düstere Stimmung erzeugt und zugleich von dem riesigen Gestirn erhellt wird. Im Krieg zerstörte Städte sind immer auch Sinnbild für menschliche Tragödien und kollektive Traumata. Der aus Venedig stammende und am Dresdner Hof erfolgreiche Bernardo Bellotto porträtiert in seinem Gemälde die im Siebenjährigen Krieg zerstörte Kreuzkirche in Dresden. Malerisch überhöht, stellt Bellotto der in Trümmern liegenden Kirche und den Ruinen im Hintergrund die unversehrten Bürgerhäuser und den aufstrebenden Neubau gegenüber. Als  Chronist  seiner Zeit schuf er mit diesem Bild ein mahnendes Zeugnis, vermittelt aber auch die Hoffnung auf eine neue Blüte der Stadt und seiner eigenen Karriere.

Zog Venedig früher die reiche Bourgeoisie an, so pilgern heute unablässig Touristenströme in die Lagunenstadt. Nicht allein die augenscheinliche Vergänglichkeit und die damit einhergehende nostalgische Verklärung ziehen die Massen an, es sind auch die zahllosen Kunstschätze und Prachtbauten. Thomas Struth setzt in der grossformatigen Fotografie «San Zaccaria» Giovanni Bellinis «Sacra Conversazione» ins Bildzentrum. In dem Gemälde deutet eine Scheinarchitektur eine nischenförmige Öffnung des Kirchenraums an; durch die Wiederholung der Formen in den Bögen, Säulen und Verzierungen ist der Übergang zum realen Kirchenraum fliessend. In Struths Fotografie überlagern sich die Realitätsebenen: Die Andachtsszene des Gemäldes verbindet sich mit der Situation im Kircheninneren, wo Menschen betend, schweigend, staunend auf den Bänken sitzen oder vor dem Gemälde stehen. Letztlich erweitert sich die Fotografie bis in den Museumsraum und bezieht uns als Betrachter mit ein.

Thomas Struth, San Zaccaria, Venezia, 1995. Farbfotografie, 182 x 230,5 cm, Kunsthaus Zürich, © Thomas Struth

Dass nicht nur Verklärung, Romantisierung und Sehnsucht mit Italien in Verbindung zu bringen sind, zeigt Nicolas de Staël. In «Agrigente» verrät einzig der Titel den Bezug zur gleichnamigen Stadt an der Südküste Siziliens. Das Motiv ist auf gerade so wenige Flächen und Farben reduziert, wie nötig sind, um in der Abstraktion eine an einem Hügel gelegene Architekturformation aufscheinen zu lassen. Das gleissende Licht der Sonne kippt ins Schwarz, jegliche Farben sind in der Hitze zu einem flirrenden Weiss verblichen und lediglich das Orange der Dächer markiert den Übergang von der Stadtsilhouette zum Himmel. Tief beeindruckt vom sizilianischen Licht malt de Staël die stilisierte Metapher einer südlichen Stadt.

Architektur begehren, Kunst verstehen
Zwischen den Gemälden und Fotografien wird der Besucher auf dreidimensionale Arbeiten treffen. Das von Karl Moser 1910 erbaute Kunsthaus, welches nach Entwürfen der Gebrüder Pfister  (1958) und Erwin Müller (1976) erweitert, und für das immer auch ortsspezifische Kunst – am Bau oder im Museum, wie von Ferdinand Hodler, Joan Miró oder jüngst von Pipilotti Rist – geschaffen wurde, lädt zum Erleben des Themas geradezu ein. Beim individuellen Ausstellungsbesuch oder an öffentlichen Führungen durch das älteste kombinierte Kunst- und Ausstellungsinstitut der Schweiz wird klar: Architektur ist weit mehr als nur eine Hülle, die als Behausung verschiedenste Funktionen erfüllt. Sie ist immer auch ein Ausdruck sozialer Realitäten, gesellschaftlicher Ordnungen – ein Spiegel und ein Spiel ihrer Zeit, an dem sich Künstlerinnen und Künstler bis heute beteiligen.

Nicolas de Staël, Agrigente, 1953. Öl auf Leinwand, 73 x 100 cm, Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde, © 2016 ProLitteris, Zürich

Bilderwahl! Architektur im Bild
23. September – 11. Dezember 2016
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, 8001 Zürich
www.kunsthaus.ch

Öffnungszeiten
Fr–So/Di 10–18 Uhr
Mi/Do 10–20 Uhr

Öffentliche Führungen
Do 29. September, 18 Uhr und Sa 5. November, 13 Uhr
durch die Ausstellung mit Gastkuratorin Manuela Reissmann

So 23. Oktober, 11 Uhr, und Do 8. Dezember, 18.30 Uhr
mit Giacinto Pettorino zur Architektur des Kunsthauses
 

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