Der Tisch als Sinnbild für Gemeinschaft
Die Kirche der Bündner Gemeinde Felsberg sollte vielfältig genutzt werden. Ein konstruktiver Dialog mündete in eine beispielgebende Umgestaltung: Behutsame bauliche Anpassungen fördern das Gemeinschaftsleben im Dorf und ziehen sogar Gäste von außerhalb an.
Schon von weitem sichtbar, thront die reformierte Kirche Felsberg über dem alten Dorfkern und vor der eindrücklichen Abbruchkante des Calanda-Bergmassivs. Eine gedeckte Steintreppe führt auf den Kirchenhügel mit dem Friedhof, der das Gotteshaus umgibt – malerisch gefasst von niedrigen Mauern und Nachbarbauten. Seit der Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1876 ist die politische Gemeinde Eigentümerin von Friedhof und Kirchturm – ein historisches Erbe, das bis heute nachwirkt.
Fadri Ratti ist seit über 20 Jahren Pfarrer in Felsberg. Der regelmäßige und direkte Austausch mit der Kirchgemeinde ist ihm ein großes Anliegen. Seit längerem bestand der Wunsch, die Nutzung der Kirche zu »flexibilisieren«, wie er sagt. Denn ein Kirchgemeindehaus gibt es in Felsberg nicht. Eine freiere Gestaltung des Gottesdienstes und zusätzliche Angebote wie Meditationen waren aufgrund der zahlreichen festgeschraubten Bankreihen jedoch kaum möglich. Also mussten die Bänke raus.
Was nach einer simplen baulichen Anpassung klang, entpuppte sich schnell als komplexes Unterfangen. Ausgelöst durch den anstehenden Ersatz der Heizung und dringenden Sanierungsmaßnahmen am Bauwerk und im Freiraum, hat der Kirchvorstand den ortsansässigen Architekten Christian Müller für die Planung beauftragt, und die Gemeinde holte den Landschaftsarchitekten Lieni Wegelin aus Malans mit ins Boot. Die politische Gemeinde mit der Vertreterin Seraina Berschinger erkannte die Einheit der Anlage als Chance und sagte der gemeinsamen Entwicklung schnell zu. Der Dialog mit der Kantonalen Denkmalpflege war intensiv und anfangs noch von Zurückhaltung geprägt. Zunächst wurde lediglich die Entfernung einiger weniger Bankreihen erlaubt – zu wenig für Fadri Ratti, der die Kirche zu einem vielseitig nutzbaren Raum machen wollte. Ein solcher Schritt war bisher einzigartig – es gab kein Vorbild, keine Referenz. Und auch in der Gemeinde zeigte sich schnell: Die Kirche ist nicht nur ein Gebäude, sondern ein emotional aufgeladener Ort. Viele Felsbergerinnen und Felsberger sind dort getauft, konfirmiert und verheiratet worden oder haben sich in der Kirche von ihren Liebsten verabschiedet – jede Veränderung berührt auch persönliche Erinnerungen. Die geplante Umgestaltung verunsicherte, rief Fragen hervor. Wie gelingt unter solchen Voraussetzungen eine überzeugende Weiterentwicklung, die nicht trennt, sondern verbindet?
Der Einbezug externer Fachpersonen erwies sich als wertvoll. Die Vision nahm Gestalt an, als der Zürcher Theologe Matthias Krieg ins Spiel kam: Inspiriert von der Bibelpassage Jesaja 25,6–8, in der Gott am Ende der Zeit alle Völker zu Speise und Wein einlädt, entstand die Idee eines langen Tisches im Kirchenraum. Krieg unterstützte auch beim spirituell-liturgischen Nutzungskonzept. Die Anlehnung an Leonardo da Vincis Wandgemälde »Abendmahl« half, die Umgestaltung in einen liturgischen Kontext einzubetten. Drei geschnitzte Symbole an der Decke von 1951 – Trauben, Kelch und Ähren – unterstreichen diesen Bezug. Der Tisch wurde so zum Sinnbild für Gemeinschaft und Austausch. Die Denkmalpflege beauftragte den St.Galler Architekten Bruno Bossart mit einem Gutachten. Mit Expertinnen und Experten von Universitäten und Museen, aber auch an Kirchenbautagungen wurde das Vorhaben eingehend diskutiert. Die evangelisch-reformierte Landeskirche Graubünden mit Kirchenratspräsidentin Erika Cahenzli war gegenüber der Öffnung der Kirche positiv eingestellt und unterstützte das Projekt von Anfang an.
Als Resultat eines sorgfältig geführten Vermittlungsprozesses stimmten im November 2020 sowohl die evangelische Kirchgemeinde als auch die politische Gemeinde Felsberg deutlich für die Umgestaltung von Kirche und Friedhof. Doch damit war es nicht getan: Die Veränderung sollte nicht nur funktional, sondern auch sinnlich und spirituell erlebbar werden. Die eigens gegründete Kommission Kunst-am-Bau führte 2021 einen zweistufigen Wettbewerb mit fünf Kunstschaffenden durch. Das Projekt »Sedimentaziun« von Mirko Baselgia überzeugte mit vier symbolstarken Gesten, umgesetzt in Felsberger Calandakalk, einem lokalen Naturstein. Mithilfe der Geomantie wurden die Interventionen mit den Energieströmen des Kultplatzes in Einklang gebracht: Die Schwelle am Ende der Steintreppe markiert den Übergang vom Profanen zum Sakralen. Eine Steinsäule auf dem neuen Gemeinschaftsgrab steht für spirituelle Erhebung. Ebenfalls als Teil des Kunstprojekts bekam das Taufbecken einen neuen Platz auf einem zylindrischen Sockel draußen unter dem neuen Vordach. Die vierte Geste, ein in den Holzboden eingelassener Steinkreis im Kircheninnern, symbolisiert Unendlichkeit und das Zusammentreffen verschiedener Zeiten und Räume.
Der Traum von Fadri Ratti und dem Kirchenvorstand kann nun gelebt werden. Ratti ist zufrieden. Und die politische Gemeinde? Die umgestaltete Kirche findet immer mehr Anklang – in Felsberg und weit darüber hinaus. Auch anfangs kritische Stimmen haben sich durch die gelungene Umgestaltung gewinnen lassen. Neuzuzüger werden dort zum Apéro empfangen. Mitglieder sind dazugekommen, einige wenige haben sich auch abgewendet. Beim Morgengottesdienst gibt es Kaffee und einen großen Zopf, beim Abendgottesdienst Käse, Birnenbrot oder auch mal ein Risotto. Der lange Tisch ist gedeckt – nicht nur mit Speisen, sondern mit dem Wunsch, beisammen zu sein.
Auch im Außenraum ist Neues entstanden: Das elegante Vordach, entworfen vom renommierten Churer Ingenieur Jürg Conzett, bietet dem Taufbecken, aber auch für informelle Begegnungen Schutz vor Wind und Wetter. Es verbindet architektonische Finessen mit leiser Geste.
Die gezielten Eingriffe sind sehr sorgfältig geplant und umsichtig in den Bestand integriert. Lokale Baumaterialien wie Holz und Kalkstein und die Wiederverwendung von Vorgefundenem, etwa der alten Kirchenbänke, sind eine Selbstverständlichkeit. Dank der erfolgreichen Zusammenarbeit aller Beteiligten zeigt sich die Umgestaltung unprätentiös und selbstverständlich. Und der Calandakalkstein, der sich aufgrund der weichen Beschaffenheit als Schwelle gar nicht eignet? Oder vielleicht doch? Seine Oberfläche verändert sich mit jedem Schritt, nimmt Spuren auf und lässt Wandel zu, den es im Laufe der Jahre wohl immer wieder braucht, um beständig zu bleiben.
Gutes Bauen Ostschweiz möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.