Die Umgebung und wir

Susanna Koeberle
31. März 2021
Installationsansicht der Ausstellung – die Mehrheit der 193 Fotografien hat Katalin Deér letztes Jahr während des Lockdowns aufgenommen. (Foto: Sebastian Schaub)

Der scheinbar lapidare Ausstellungstitel «WO WIR» erweist sich bei unserem Besuch als vielschichtiges Geflecht von Bedeutungen und Fragen. Genau genommen besitzt dieser Titel sogar eine universelle und existenzielle Dimension; die beiden kurzen Wörter benennen den Menschen und seinen Lebensraum. Wir leben nicht im luftleeren Raum, unsere Existenz ist stets an einen Ort, an ein «wo», gebunden. Wir werden an einem Ort geboren, schlagen vielleicht Wurzeln oder ziehen weiter. Die Orte bleiben indes und tragen Spuren dieser mannigfaltigen Bewegungen. Das «So-Geworden-Sein» von Materie und Mensch nennt die Künstlerin Katalin Deér diese Spuren. Bei ihrer fotografischen Erkundung der gebauten Umgebung – der Landschaft – trage sie diese Fragestellung in sich und beobachte unseren Umgang mit den Dingen, die schon da sind, erklärt sie beim Rundgang durch die Ausstellung. Im Sommer machte sie sich auf eine Tour durch die Ostschweizer Kantone, um unterschiedlichste Bauten dieser Region zu fotografieren. Auslöser dafür war eine Anfrage des Architektur Forums Ostschweiz für einen Bildessay. Die von ihr vorgeschlagene Idee verselbständigte sich daraufhin und weitete sich zu einer neuen Arbeit, die mit dieser Ausstellung noch nicht abgeschlossen ist.

Ihre künstlerische Praxis ist geprägt durch das Verbinden von fotografischen und plastischen Arbeiten, durch ein Verknüpfen von Zwei- und Dreidimensionalität, durch ein Zwiegespräch von Körper und Materie. Insofern geht es der Künstlerin nicht um ein objektives Festhalten, sondern vielmehr um eine Übersetzung eines Zustands des «Ergriffenseins» von Dingen. Als Erweiterung ihrer Recherche fragte sie hundert Personen nach einem in der Ostschweiz gelegenen «Herzbau» (so auch der Titel der mehrteiligen Arbeit beim Eingang), der für sie eine besondere Bedeutung hat. Bewusst legte sie keine Route fest, ihre Streifzüge glichen eher einer situationistischen «Dérive», der Technik, die der Künstler und Situationist Guy Debord in den 1950er-Jahren geprägt hatte. Diese Form der Fortbewegung im Raum gründet auf der Fähigkeit sich zu verlieren. Weil wir es gewohnt sind, bei unseren Handlungen ein Ziel vor Augen zu haben, müssen wir nämlich diese «Kunst» tatsächlich erlernen. 

Blick in die Publikation «Herzbau» mit den Fotografien von Katalin Deér, die man in der Kunsthalle erwerben oder dort bestellen kann. Die Bilder werden auch im Buch «Stadt und Landschaft denken. Anthologie zur Baukultur» publiziert. (Foto: Katalin Deér)

Auf ihren Ausflügen entstand eine Vielzahl von Fotografien, die in der Regel einen architektonischen oder skulpturalen Fokus haben. Beim Betrachten der Auswahl, die nun in der Ausstellung «WO WIR» zu sehen ist, ertappt sich die Besucherin beim Entziffern und Zuordnen der Bauten und Orte. Die Menge der direkt an die Wand aufgeklebten fotokopierten Bildträger (193 an der Zahl) macht dem ordnenden Blick allerdings einen Strich durch die Rechnung. Plötzlich schweifen wir ab, zoomen wieder heran und lassen uns ergreifen von der Schönheit dieses Bildkosmos. Die Stärke dieser Sammlung liegt gerade in ihrer Einfachheit und Direktheit. Hier liegt ein weites Feld vor uns, in dem Bauten, Bäume und Blumen zu sprechen beginnen. Wenn sie ein Bild mache, suche sie nach etwas Unsichtbarem, etwas Unaussprechlichem, einer Entsprechung zu einer Empfindung – nach einer Resonanz, sagt die Künstlerin. Dass dieser Blick auf die Umgebung ein ganz individueller ist, zeigen auch die Bilder und das Video des in der Schweiz lebenden tschechischen Fotografen Jiří Makovec. Hier weitet sich die Perspektive auf den Menschen aus, auch Tiere bevölkern seine Arbeiten. Sie sind gleichsam das «wir»-Pendant zu den «wo»-Erkundungen von Deér. 

Installationsansicht «WO WIR» (Foto: Sebastian Schaub)

Eine konkret akustische Dimension nimmt der komplexe Echoraum unserer Umwelt in der Soundinstallation von Caroline Ann Baur und Vanessà Heer ein. Die beiden Künstlerinnen erzeugen mittels Abspielen von Geräuschen sowie durch performative Konzerte während der Ausstellung eine Form der kollektiven Erforschung von Klang. Alle drei Projekte schaffen durch das Fokussieren auf lokale Gegebenheiten die Möglichkeit, unser unmittelbares Umfeld neu zu denken und zu erfahren. Unser Alltag spielt sich nicht einfach in unbelebter Materie ab, denn diese wird immerfort durch konkrete Ereignisse aufgeladen. Das Zusammenfallen dieser unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Schichten in einem Kunstwerk führt eine weitere mehrteilige Arbeit von Katalin Deér besonders anschaulich vor: «2:53» bezeichnet die Dauer der Belichtung bei den beiden Fotogrammen, die Teil der Installation sind. Eine Fotografie eines Holzbaus von Ernst Gisel wurde dabei überlagert mit zwei verschiedenfarbigen, unregelmässig geformten Glasplatten. Auch die Hände der Künstlerin sind auf den grossformatigen Abzügen schemenhaft zu erkennen. Daneben stellte Deér drei weitere Glasplatten auf den Boden, sie stehen gleichsam für die objekthafte Präsenz und Realität. Doch wo beginnt die Wirklichkeit oder wo endet sie? Raum, Licht, Farbe und Objekte – Glasplatten wie Bauten – eröffnen eine schillernde Welt, deren Ränder nie genau festzumachen sind. Diese Ränder entstehen durch unseren Blick stets von neuem, «wir» und «wo» bedingen sich gegenseitig.

«The weight of light» (2020) von Katalin Deér (Foto: Katalin Deér)

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