Die Wiederentdeckung eines Meilensteins der Schweizer Architektur

Elias Baumgarten
29. September 2022
Foto: Elias Baumgarten

10. Juni 1976: Ein Brief mit Schlüsseln verlässt Luigi Snozzis Büro. Bald darauf tuckern zwei Zürcher Damen mit ihrem Renault R4 ins Tessin: Paula Kalman-Fränkel und ihre Tochter Vera Brunner-Kalman. Ihr Ziel ist die soeben fertiggestellte Casa Kalman in Brione sopra Minusio. Doch bei ihrem neuen Ferienhaus angekommen, weicht Paulas Vorfreude bald Enttäuschung, die sie Snozzi auch postwendend in einem Brief kundtut. Das Haus ist ihr zu hellhörig, und die günstige Ausstattung, die sie eigentlich selbst gewünscht hatte, gefällt nicht: Die Waschbecken sind zu klein, die Abortschüsseln vermeintliche «Ladenhüter». Und diese hässliche Fernsehantenne – die Bauherrin will doch überhaupt keinen Fernseher im Haus. Aber mit der Zeit verschwindet das Missfallen und verwandelt sich – begünstigt gewiss auch durch die positive Aufmerksamkeit der Fachwelt – allmählich in Stolz.

Viele Jahre später, genauer im Herbst 2011, trifft Vera Brunner-Kalman bei einer Bootsfahrt auf dem Zürichsee auf den Architektur-, Städtebau- und Fotografiehistoriker Harald R. Stühlinger, zu jener Zeit Assistent am Departement Architektur der ETH Zürich. Die beiden freunden sich an, und Jahre später reift die Idee, ein Buch über das famose Haus zu schreiben.

Foto: Elias Baumgarten
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Eben dieses Buch liegt nun vor. Es soll den Auftakt bilden für eine Reihe von Monografien über bis anhin weniger oft besprochene Bauten von namhaften Schweizer Architekt*innen im In- und Ausland mit dem Titel «swissmonographies». Die Bücher sollen dem baulichen Erbe aus der Zeit nach 1945 zu mehr Beachtung und Wertschätzung verhelfen.

«Casa Kalman – Luigi Snozzi» wurde von Pascal Storz, Fabian Bremer und Hannes Drissner ausserordentlich schön gestaltet. Mit seinem geprägten Leineneinband, dem sehr hochwertigen Papier (Munken) und den vielen ausklappbaren Plänen ist die handliche Publikation ein Hochgenuss für Druck- und Buchliebhaber. Die fast anachronistische Sorgfalt hinsichtlich der Gestaltung setzt sich bei den Texten fort. Das Buch ist didaktisch aufgebaut. Es beschreibt den Kontext, den Entwurfsprozess, aber auch die Rezeptionsgeschichte minutiös. Ein Interview mit Vera Brunner-Kalman, in das kurze Ergänzungstexte mit Erläuterungen und Hintergrundinformationen eingeflochten sind, gibt Einblick in das Verhältnis zwischen der Bauherrschaft und dem Architekten sowie die Nutzung des Hauses. Die Texte liegen dabei auf Deutsch und Englisch vor. Sie lassen sich sehr angenehm und flüssig lesen und sind über weite Strecken wohl auch für interessierte Laien geeignet. Schade ist einzig, dass durch die Verschränkung von deutscher und englischer Version zuweilen eine gewisse «Blätterarbeit» entsteht, die den Lesefluss unterbricht.

Foto: Elias Baumgarten
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Interessant ist zu erfahren, wie Luigi Snozzi und Walter von Euw ihren Entwurf geduldig Stück für Stück entwickelten, Irrtümer und Schwächen beseitigten und sich auch durch einen abgelehnten Bauantrag nicht aus der Ruhe bringen liessen. Erst im Laufe der Zeit, so erfährt man, bildeten sie ein wirklich gutes Verständnis für das steile Grundstück oberhalb des Lago Maggiore aus. Bemerkenswert ist auch, wie die bewegte Familiengeschichte der Bauherrschaft sich in ihren Wünschen niederschlug. So wollte Paula Kalman-Fränkel, die nach ihren traumatischen Erfahrungen in Ungarn zeitlebens befürchtete, die Russen könnten auch die Schweiz erobern, dass ihr Haus nach einer etwaigen Enteignung in zwei Wohnungen unterteilt werden könnte. Und Luigi Snozzi – an Besprechungen, bei denen er mit Kaffee und Kuchen bewirtet wurde, doch stets etwas nervös, weil er Deutsch sprechen musste – hatte ihr nicht nur Fragen zur Architektur, sondern auch zu seiner politischen Gesinnung zu beantworten.

Das Buch sei allen, die sich für Architektur interessieren, sehr ans Herz gelegt. Man lernt bei der Lektüre nicht nur viel über die Casa Kalman an sich, sondern auch über Luigi Snozzis Arbeitsweise und seinen Umgang mit Bauherr*innen. Und obschon Snozzi zu den bekanntesten Schweizer Architekten gehört, erfährt man trotzdem noch Neues.

Foto: Elias Baumgarten
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Casa Kalman – Luigi Snozzi

Casa Kalman – Luigi Snozzi
Harald R. Stühlinger

170 x 225 Millimeter
136 Seiten
101 Illustrationen
Leineneinband
ISBN 9783856169787
Christoph Merian Verlag
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