Ein Mythos, viele Räume

Susanna Koeberle
23. September 2021
Tosh Basco ist Teil des Ensembles am Schauspielhaus Zürich und auch Mitglied des Kollektivs Moved by the Motion. (Aufführung von «Orpheus» am Schauspielhaus Zürich, Foto © Diana Pfammatter)

Der Mythos des Orpheus ist allgemein bekannt. Der Sänger und Dichter scheitert beim Versuch, seine Frau Eurydike – die an einem Schlangenbiss gestorben war – aus der Unterwelt zu holen. Beim Aufstieg hält er sich nicht an die Abmachung und schaut zurück. Sein Blick tötet seine Geliebte gewissermassen, sie stirbt zum zweiten Mal. Die tragische Geschichte ist vielfach rezipiert und verarbeitet worden, sie steht zugleich stellvertretend für die Kraft, die Künstler*innen inspiriert. Orpheus’ Blick hat auch eine zerstörerische Seite: Er führt die Macht des Blickes vor, der Leben zunichte machen kann. Diesen Aspekt nimmt die Filmemacherin und Performance-Künstlerin Wu Tsang zum Ausgangspunkt ihrer neueste Produktion, die in Zusammenarbeit mit ihrer Truppe Moved by the Motion entstanden ist. Die Hausregisseurin am Schauspielhaus Zürich eröffnet mit «Orpheus» die neue Saison – und zwar mit einer Wucht von Inszenierung! Die Künstlerin weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, wenn weisse Menschen durch Blicke andere (im doppelten Sinne anders) Menschen marginalisieren. Das Thematisieren ihrer migrantischen und genderfluiden Identität ist in ihrer Arbeit ein wichtiges Element, ohne dass sie dies allerdings mit einer Fingerzeigegeste abhandeln würde. Der komplexen Dynamik der Repräsentation in unserer visuell geprägten Kultur etwas entgegenzuhalten, braucht Mut. Diesen Mut bringt auch das Schauspielhaus Zürich auf, indem es sein Publikum mit diesen Fragen konfrontiert. Auch innerhalb der Theaterwelt gilt es, einen neuen Blick zu wagen. 

Ein Spiegel bringt feste Koordinaten durcheinander. Im Bild: Josh Johnson, Thelma Buabeng, Steven Sowah und Tosh Basco (Foto © Diana Pfammatter)

«Orpheus» tut dies in mehrfacher Hinsicht. Die Relektüre des klassischen Mythos, die Wu Tsang mit ihrer Truppe unternimmt, lebt von einer radikalen Infragestellung des Vertrauten, auch unser räumlichen Wahrnehmung. Wenn die Tänzer*innen die Bühne betreten, wissen wir einen Moment lang nicht, in welchem Raum wir uns befinden. Durch einen überdimensionalen Spiegel, der schräg über dem Bühnenboden des Schiffbaus hängt, wird unser Blick auf eine Reise geschickt. Feste Koordinaten geraten ins Schwanken. Die dunklen Körper der Performenden entziehen sich einer Bemächtigung unseres Blickes. Denn dieser will verstehen, er will zuordnen. Wu Tsangs Unterwelt ist nicht nur ein Ort der Subkultur (nämlich ein Underground-Club), sie wird zugleich zum Ort unserer eigenen blinden Flecken. 

In ihrer pluralistischen Praxis vermischt die Künstlerin nicht nur Disziplinen, sie schafft auch eine Auffächerung der Perspektiven. Dass sie das durch das Medium der Bewegung und der Musik tut, ist sinnig. Denn Worte sind auch gefährliche Werkzeuge, sie täuschen Bedeutung vor, sie schaffen Systeme der Macht – womit wir mitten im Thema sind. Die Livemusik schafft eine zusätzliche Unmittelbarkeit, die das Geschehen auf der Bühne unterstützt. Dieses befindet sich auch räumlich in permanenter Transformation. Das Umbauen der Bühne wird Teil der Vorstellung, langsam wird Stück für Stück der Boden abgetragen und es öffnet sich vor unseren Augen die Unterwelt. Jede Veränderung des Bühnensettings signalisiert etwas, löst einen schockartigen Moment der Verunsicherung aus. Wir folgen den Bewegungen der Protagonist*innen und werden von ihnen ergriffen, wir sind nicht mehr passive Zuschauer*innen, sondern selber Teil eines Ereignisses. Nicht zuletzt werden wir dadurch auch Teil eines Diskurses, dem wir uns nicht länger entziehen können. Das sind Momente, die nur das Theater uns geben kann.

Thelma Buabeng am Rand der Unterwelt (Foto © Diana Pfammatter)

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