Mit seinen High-Tech-Bauten hat Richard Rogers die Architektur des 20. Jahrhunderts mitgeprägt. Ein Nachruf auf den Pritzkerpreisträger

Falk Jaeger
3. Januar 2022
Foto © AIA

Ein Gebäude besteht aus Tragwerk, Verkleidung und Versorgungsleitungen wie der menschliche Körper aus Haut und Knochen, Muskeln und Adern. Auf die Idee, dies offen zu zeigen, ja geradezu demonstrativ nach aussen zu kehren, waren englische Architekten in den späten 1960er-Jahren gekommen. Und da sie diese Bauweise, ob bewusst oder unbewusst, als Stilmittel einsetzten, suchten alsbald die Theoretiker nach einem passenden Begriff. «High-Tech» nannten Joan Kron und Suzanne Slesin 1978 den in Amerika verbreiteten Einrichtungsstil, der mit Industrieleuchten, Noppenblechböden und Metallregalen eine neue Ästhetik in die Wohnzimmer brachte. Und «High-Tech» nannte man wenig später auch die Übersetzung aus der Inneneinrichtung in die Architektur, wie sie Nicholas Grimshaw, Norman Foster, Richard Rogers und Michael Hopkins realisierten, die vier bedeutendsten britischen High-Tech-Apologeten. Es ging darum, die Bautechnik sprechen zu lassen, das Tragwerk (ein Stahlskelett zumeist) durch gestalterische Überhöhung möglichst stark zur Geltung zu bringen, aber auch durch leuchtende Farben. Und es ging um die Weiterentwicklung der Bautechnik, die architektonisch und technisch saubere Trennung von Konstruktion und Ausbau. Man wünschte sich eine industrialisierte Bauweise mit einem hohen Vorfertigungsgrad und hoffte, die Baukosten so senken zu können.

Richard George Rogers wurde 1933 in Florenz in eine Zahnarztfamilie geboren. Ab 1938 wuchs er in England auf. Während des Militärdienstes nach Italien versetzt, kam er dort mit dem berühmten Architekten Ernesto Rogers, einem Onkel zweiten Grades, in Kontakt und entschloss sich, auch Architekt zu werden. Nach dem Studium in London und Yale (Connecticut) arbeitete er zunächst bei SOM Skidmore, Owings & Merrill in New York. 1963 gründete er in London gemeinsam mit Norman Foster sowie seiner und dessen Frau das Büro Team 4.

Aber Foster und Rogers konnten von unterschiedlicherem Naturell kaum sein: kühl, britisch distinguiert, beherrscht der eine, mitteilsam, warmherzig, temperamentvoll der andere. Das konnte nicht gut gehen, und so schloss sich Rogers 1969 mit dem Italiener Renzo Piano zusammen. Die beiden gewannen den Wettbewerb für das Centre Pompidou in Paris und realisierten den epochalen Bau zwischen 1971 und 1977. Ein Museum wie eine Industrieanlage, eine Kulturmaschine, dazu von einer Grösse, die alle Massstäbe in der Pariser Innenstadt sprengte – das war ein unerhörter Affront und ein in die Zukunft weisendes Fanal zugleich. Wie damals beim Eiffelturm dauerte es viele Jahre, bis die Pariser Stadtgesellschaft den architektonischen Alien akzeptiert hatte. Für Lloyd’s of London baute Rogers von 1979 bis 1986 eine weitere Inkunabel der High-Tech-Architektur, ein Hochhaus mit aussen liegenden Versorgungsleitungen und Kränen auf dem Dach, das aussieht wie eine Ölraffinerie. Auch dieser Bau wurde anfangs kaum akzeptiert, gehört aber heute zu den Wahrzeichen der britischen Kapitale. Häufig dient er mittlerweile als Filmkulisse.

Das Centre Pompidou (1971–1977) im Jahr 2016; es dauerte Jahre, ehe der Bau von der Bevölkerung akzeptiert und schliesslich wertgeschätzt wurde. (Foto: victortsu via Flickr)

Rogers spätere Bauten treten nicht mehr so provokativ auf, fügen sich eher in den Kontext ein wie die Gebäude für TV Chanel 4 und Tyne Tees TV 5. Zeitgemäss im Sinne von technisch ambitioniert sind sie jedoch allemal – genau wie seine Gestaltungen für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (1995) und die Justizbehörden in Bordeaux (1998). In seinen Terminals in London Heathrow und Madrid gehen Flugreisende aus und ein. Der riesige, rundzeltartige Millennium Dome (heute O2-Arena) in Greenwich am Ufer der Themse war Schauplatz der Feierlichkeiten zur Jahrtausendwende.

Auch für Berlin entwarf Rogers ein technizistisches Hochhaus, das sogenannte «Zoofenster» (1995), das jedoch wegen Investorenstreitigkeiten in der Pipeline stecken blieb. Heute steht an der Stelle das Hochhaus des Waldorf Astoria von Christoph Mäckler. Auch Rogers’ grosse Pläne für den Potsdamer Platz waren nicht von Erfolg gekrönt. Stattdessen kam Ex-Büropartner Renzo Piano zum Zug. 50000 Quadratmeter Bürofläche immerhin konnte Rogers dort entlang der Linkstrasse verwirklichen, die er in gewohnt technizistischer Manier gestaltete – und nicht ohne seinem früheren Partner Renzo Piano augenzwinkernd eins auszuwischen, indem er das «Terrakottafassadendiktat» persiflierte, das dieser im Rahmenplan festgeschrieben hatte.

Eine intime Feindschaft verband Richard Rogers mit Prince Charles, der bekanntermassen eine traditionalistische Architekturauffassung vertritt, eine Art Kreuzzug gegen die zeitgenössische Moderne führt und Rogers’ Projekte am Paternoster Square und für den Wiederaufbau der Königlichen Oper torpedierte. Als ihm Charles 2009 auch noch ein Milliardenprojekt auf dem Gelände der ehemaligen Chelsea Kasernen abschoss, indem er von Royal zu Royal bei der Bauherrschaft aus Katar intervenierte, beklagte sich Rogers im Guardian heftig. Der Prinz stelle sich keiner Debatte. Das sei undemokratisch und verfassungswidrig. «Ich glaube, er beschäftigt sich mit diesen Themen, weil er einen Job sucht, und in diesem Sinne habe ich Mitgefühl mit ihm», spottete er und erntete dafür lauten Beifall in der britischen Architekturszene.

Das Mitwirken an der solarCity in Linz verweist indes auf Rogers ökologisches Bewusstsein, das seine Arbeit, aber auch seine Lehre und Vortragstätigkeit mit den Jahren mehr und mehr bestimmte. Beim Neubau des Parlamentsgebäudes von Wales zum Beispiel halbierte er dessen Energieverbrauch. 

1991 schlug ihn die Queen zum Ritter und erhob ihn 1996 gar als Baron Rogers of Riverside mit Sitz im Oberhaus in den Hochadel. Er trug trotzdem weiterhin lieber grüne Pullover und rote Oberhemden. 2007 schliesslich erhielt er den Pritzkerpreis. Am 18. Dezember 2021 starb Richard Rogers im Alter von 88 Jahren in seinem Haus in London.

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