Wakkerpreis für Poschiavo

Manuel Pestalozzi | 22. Januar 2025
Das Devon House, erbaut 1863 von Pietro Pozzi, zeugt von der triumphalen Rückkehr einiger Dorfbewohnerinnen und -bewohner, die im Ausland zu großem Reichtum gekommen waren. Sie integrierten beliebte Stilelemente aus der Ferne in die Architektur ihrer Villen. (Foto: © Christian Beutler/Keystone/Schweizer Heimatschutz)

Zum letzten Mal ging der jährlich vergebene Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes im Jahr 2018 nach Graubünden. Damals wurde nicht eine Gemeinde ausgezeichnet, sondern die in der Architektur sehr aktive Kulturstiftung Origen. Die letzte Preisvergabe an einen Ort oder eine Region in der italienischen Schweiz liegt sogar noch länger zurück: 2015 wurde das Bergell geehrt, und 1993 ging der prestigeträchtige Preis letztmalig ins Tessin, genauer nach Monte Carasso. 

Die Gemeinde Poschiavo liegt zwar im Hochgebirge, ist aber, weil sie sich am historisch bedeutsamen Berninapass befindet, über Straße und Schiene gut mit dem Rest der Welt verbunden. Allein schon der rege Passverkehr sorgt dafür, dass das Bergtal Puschlav im südöstlichsten Winkel der Schweiz nicht in Vergessenheit gerät. Das Tal ist politisch in zwei Gemeinden gegliedert: Brusio im unteren Teil und Poschiavo im oberen. Das Gemeindegebiet von Poschiavo, auf dem rund 3500 Menschen leben, erstreckt sich über 191 Quadratkilometer und Höhenlagen von 961 bis 3896 Meter über dem Meer. Grund für die verdiente Auszeichnung der Gemeinde mit dem Wakkerpreis sind unter anderem die schön erhaltenen Bauwerke und Landschaftsgestaltungen aus verschiedenen geschichtlichen Epochen. Sie zeigen, dass Poschiavo jenseits von Nostalgie und Musealisierung seine Identität behält und weiterentwickelt.

Ein ortstypisches Element des Puschlavs ist die Terrassierung von Hangzonen mit Trockenmauern. Das Projekt »Runchett da Sotsassa« östlich des Dorfes Poschiavo will sie bewahren, wiederherstellen und aufwerten. (Foto: © Christian Beutler/Keystone/Schweizer Heimatschutz)

Die Baugeschichte von Poschiavo reicht bis in prähistorische Zeiten zurück. Denn der Berninapass war immer schon eine wichtige Passage für den Verkehr über die Alpen. Neben der Bergwirtschaft mit Maiensäßen, also im Frühjahr bewirtschafteten Almhütten, prägten der kulturelle Austausch, der Transport und später auch der Tourismus die Gemeinde und ihre Bausubstanz. Im Laufe der Zeit kamen kleinere Industriebetriebe und die Nutzung der Wasserkraft zur Produktion von elektrischem Strom hinzu. 

Besonders bekannt ist Poschiavo für die Wohnstätten erfolgreicher Auswanderer, die ihren Wohlstand und ihre Weltläufigkeit zurück in der Heimat architektonisch zum Ausdruck bringen wollten. Ihre Bauten werden bewahrt und gepflegt, und auch Zeugen aus dem beginnenden Industriezeitalter sind vielfach in gutem Zustand erhalten. Teils wurden sie auch feinfühlig weitergebaut – beispielsweise der Palazzo Landolfi im Ort Poschiavo aus dem 16. Jahrhundert, in dem einst die älteste Bündner Druckerei untergebracht war. Die Architekten Corrado Albasini und Gianluca Martinelli kombinierten den historischen Bestand mit einem modernen Anbau, der sich mit einer zeitgenössischen Fassadengestaltung gut eingliedert. Ergänzt durch eine Tiefgarage und einen neu gestalteten Garten, wurde das Gebäudeensemble im Sinne der historischen Ortsentwicklung weitergedacht.

Der Kulturspeicher der Musei Valposchiavo, ein sensibel gestalteter Holzbau des Architekten Urbano Beti, ergänzt das vorindustrielle Gebäudeensemble »Mulino Aino«. (Foto: © Christian Beutler/Keystone/Schweizer Heimatschutz)

Die Gemeinde bemüht sich darum, diese bauliche Vielfalt als identitätsstiftende Eigenart zu pflegen. Sie hat ihren historischen Bestand sorgfältig inventarisiert und Baureglemente entwickelt, die eine qualitativ hochwertige Instandhaltung und Weiterentwicklung garantieren. Neue Bauten orientieren sich an den traditionellen Grundsätzen, um das Ortsbild zu erhalten. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht ein Mehrfamilienhaus aus dem Jahr 2011 an der Via Olimpia, entworfen von Fanzun Architekten; es orientiert sich gestalterisch an den charakteristischen Merkmalen des historischen Dorfzentrums. Die klassische Dreiteilung der Fassade und die typischen Proportionen wurden in eine moderne Architektursprache übersetzt. Wegen seiner harmonischen Einbettung in den Kontext erhielt das Haus 2013 eine besondere Erwähnung bei der Auszeichnung für gute Bauten Graubünden. Der Architekturpreis wird seit 1987 von einem Verein vergeben, zu dessen Gründungsmitgliedern der Bündner Heimatschutz gehört.

Das 2011 an der Via Olimpia gebaute Mehrfamilienhaus orientiert sich in Gliederung und Verhältnis zum Straßenraum an historischen Vorbildern. (Foto: © Christian Beutler/Keystone/Schweizer Heimatschutz)
»Poschiavo ist nicht nur ein Beispiel für gelungene politische und administrative Strategien, sondern auch ein Beweis dafür, dass gesellschaftliches Engagement und Zusammenhalt eine Berggemeinde zu einem qualitativ hochwertigen Wohn- und Arbeitsort gestalten können.«

Schweizer Heimatschutz

Durch die Verbindung von Baukultur, Eigenständigkeit, nachhaltiger Landwirtschaft und zivilem Engagement habe sich die Gemeinde gegen die Abwanderung behauptet und eine hohe Lebensqualität geschaffen, lobt der Heimatschutz. Dabei ist zu ergänzen, dass Poschiavo auch ein sehenswertes Beispiel von sogenannter »Corporate Architecture« besitzt, also Firmenarchitektur, die ein positives Image prägen soll: Unterhalb des Bahnhofs befindet sich der gut gepflegte Hauptsitz des internationalen Energieversorgungsunternehmens Repower, neben der Rhätischen Bahn der größte Arbeitgeber im Ort. Verwaltungsgebäude aus unterschiedlichen Epochen sind wie bei einem Campus um einen hübschen Park angeordnet. Bei einer Reise nach Poschiavo lohnt es sich, auch dieser Anlage einen Besuch abzustatten. Die feierliche Übergabe des Wakkerpreises findet am 23. August dieses Jahres statt. 

Blick in den zentralen Park des Repower-Campus. (Foto: Manuel Pestalozzi, 2011)

Vorgestelltes Projekt 

Pfister Klingenfuss Architekten AG

Wohnüberbauung Scheidgasse

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