Ein vielstimmiger Chor

Manuel Pestalozzi
25. November 2021
An den Diskussionen beteiligten sich (von links nach rechts) auch Aita Flury, Marianne Burkhalter, Katrin Gügler, Marcel Smets, Werner Binotto, Tom Avermaete, Ariane Widmer Pham, Lukas Bühlmann und Balz Halter. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Eine hochstehende Baukultur bedarf unausgesetzter Pflege, sie muss immer neu erarbeitet werden. Darum braucht es Organisationen wie die Stiftung Baukultur Schweiz. Doch warum eigentlich? Wer sind die Verhinderer einer qualitätsvollen gebauten Umwelt? Welche Wertehaltungen machen es schwer, sie aufzubauen und zu bewahren? Eine Antwort auf diese Fragen ist so schwierig wie die Definition des Begriffs Baukultur. Am häufigsten als Hemmnisse identifiziert werden der Neoliberalismus, Profitgier und Ignoranz. Aber eine klar umrissene Partei, die gegen eine hochstehende Baukultur arbeiten würde, gibt es nicht, wie Enrico Slongo, Stadtarchitekt von Freiburg und Präsident der Stiftung Baukultur Schweiz, in seinen Begrüssungsworten unterstrich. Genauso wenig lässt sich bisher leider sagen, dass alle Fürsprecher*innen immer an einem Strang ziehen.

Immerhin können sie mittlerweile auf eine konkretes argumentatives Arsenal zurückgreifen: die Erklärung von Davos. Diese wurde durch das Bundesamt für Kultur formuliert und 2018 von den Kulturministerinnen und Kulturministern Europas auf Initiative der Schweiz verabschiedet. In dem Papier findet sich eine Definition des Begriffs Baukultur. Diese sei «die Summe der menschlichen Tätigkeiten, welche die gebaute Umwelt verändern». Und es wird auch eine «Vision einer hohen Baukultur» umrissen: «Ein neuer, integrierter Ansatz, um unsere gebaute Umwelt zu gestalten, der in der Kultur verankert ist, den sozialen Zusammenhalt aktiv stärkt, eine nachhaltige Umwelt sicherstellt und zu Gesundheit und Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung beiträgt.»

Ein wichtiges Feld für die Entwicklung und den Erhalt einer hochstehenden Baukultur ist die Stadt. Darum wählten die Stiftung Baukultur und die ETH Zürich als Gastgeberin gemeinsam das Tagungsthema «Baukultur und die Stadt» aus. In einem Vortrag brachte Vittorio Magnago Lampugnani, emeritierter Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH, fünf Beispiele zu Entstehung und Pflege von Baukultur in der Stadt. Im Fall der Piazza della Santissima Annunziata in Florenz und des Covent Garden in London waren herausragende gestalterische und stadträumliche Einfälle ausschlaggebend, die über lange Zeiträume zur Nachahmung und zur Bewahrung animierten. Beim Rasterplan von Ildefonso Cerdá für Barcelona und der City-Beautiful-Bewegung in Chicago handelt es sich indes um städtebauliche Ordnungsideen, welche sich mehr oder weniger erfolgreich durchsetzten. Die fünfte Geschichte schliesslich handelte vom Metro-Design von Hector Guimard für Paris, einer Jugendstil-Extravaganz, die an verschiedenen Orten der Stadt auftaucht und durch ihre Auffälligkeit identitätsstiftend wirkt. Mit diesen Beispielen wollte Lampugnani zeigen, dass sich Baukultur auf ganz verschiedenen Ebenen manifestiert und sehr viele Menschen an ihrer Herausbildung beteiligt sind.

Produktionsbedingungen

Der erste Themenblock trug den Titel «Baukultur und die Produktion der Stadt». Es ging um die Einflussmöglichkeiten von Expert*innen, die in den Städten bedeutend grösser sind als auf dem Land. Die Architektin Marianne Burkhalter war von 2016 bis 2019 Mitglied des seit 1983 existierenden Gestaltungsbeirats der österreichischen Stadt Salzburg. Das international zusammengesetzte Fachgremium hat die Möglichkeit, grössere Projekte zu kritisieren beziehungsweise zu ihnen Stellung zu nehmen. Burkhalter machte kein Geheimnis daraus, dass die Voten des Gremiums trotz ausführlichen Erläuterungen und intensiver Öffentlichkeitsarbeit immer wieder angegriffen werden. Deshalb müsse ein solcher Beirat nicht nur fachlich hervorragend besetzt sein, sondern auch auf charismatische Persönlichkeiten zählen können.

Katrin Gügler ist als Direktorin des Zürcher Amtes für Städtebau auch Mitglied des Baukollegiums der Stadt, das besagtem Salzburger Gremium ähnelt. Die Protokolle des Kollegiums seien «Bausteine bei Rekursen», erklärte die Direktorin und machte darauf aufmerksam, dass die Wertehaltung dieser baukulturellen Instanz im Wandel ist: Es gehe nicht länger nur um Architektur, die Politik erwarte mehr. Beispielsweise Massnahmen, die beim Erreichen klimapolitischer Ziele helfen. Auch sei neuerdings die Landschaftsgestaltung mit einer Fachperson im Gremium vertreten. Katrin Gügler liess es sich nicht nehmen, bei dieser Gelegenheit nochmals kräftig die Werbetrommel für die beiden Richtpläne zu rühren, die in Zürich gerade zur Abstimmung stehen. 

Die Ausführungen von Marcel Smets, dem ehemaligen Baumeister Flanderns, und von Werner Binotto, einst Kantonsbaumeister in St. Gallen, fokussierten dann auf ländlichere Regionen. Leider stimmte pessimistisch, was die beiden zu berichten hatten. Das Amt des Baumeisters Flanderns gibt es noch nicht sehr lange. Inspiriert von architektonischen und städtebaulichen Ereignissen in den Niederlanden, wurde es 1999 geschaffen. Gut vernetzte Persönlichkeiten nahmen es anfänglich ein, sie führten beispielsweise Wettbewerbe bei öffentlichen Bauvorhaben ein, die auch jungen Architekt*innen eine Chance gaben. Die Folge war eine veritable baukulturelle Explosion; die flämische Architekturszene ist heute weltbekannt – Marcel Smets sieht das auch als Verdienst des neuen Amtes. Dieses habe von 1999 bis 2009 eine «heroische Periode» durchlebt. «Sie war kurz und ist vorbei», meinte er dann allerdings trocken. Organisation und Einfluss des Amtes hätten gelitten, die Unabhängigkeit des Baumeisters werde immer geringer. Werner Binotto präsentierte mit dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen und dem Landwirtschaftlichen Zentrum in Salez zwei Perlen der Baukultur. Die Qualität dieser Bauten sei den gut aufgegleisten Wettbewerbsverfahren und der offenen Diskussionskultur in St. Gallen zu verdanken. Doch für die Schweizer Baukultur insgesamt sieht Binotto schwarz. Er beklagte eine Verkümmerung des öffentlichen Raums, den «Rückzug ins Innere der Parzelle», eine Tendenz, die sich durch die innere Verdichtung noch verschärfe. Und den Kommunen fehle es derweil bislang an baukultureller Kompetenz. 

Die anschliessende Diskussionsrunde wurde von Architektin Aita Flury, Stiftungs-Co-Leiterin, und Stiftungsrat Tom Avermaete, Professor für Geschichte und Theorie des Städtebaus an der ETH, moderiert. Zu den vier Referent*innen gesellten sich weitere Stiftungsratsmitglieder: Ariane Widmer Pham, Kantonsplanerin in Genf, Lukas Bühlmann, Vizepräsident bei Bellaria Raumentwicklung, und Balz Halter, Vizepräsident des Verwaltungsrates der Halter AG. In der Diskussion ging es neben dem Rollenverständnis um die Kompetenzen der Expert*innen. Katrin Gügler mahnte Teamgeist und Fitness im Prozessmanagement an. Marianne Burkhalter beklagte die Regeldichte in Wettbewerbsprogrammen. Kontrovers diskutiert wurde der Wert einer städtebaulichen Vision. Die komme von Fachleuten, welche auch Entscheidungskompetenz hätten, meinte Werner Binotto, was Katrin Gügler zu empörtem Widerspruch herausforderte. Die Zürcher Richtpläne, sagte sie, seien eine Vision, die Antwort geben sollen auf kollektive Fragen. Balz Halter meinte dazu, Menschen bräuchten Bild, um über bauliche Entwicklung diskutieren zu können. Die schönen Visualisierungen der City-Beautiful-Bewegung zum Beispiel seien in Schulen gezeigt und diskutiert worden.

Zum zweiten Themenblock diskutierten (von links nach rechts) Aita Flury, Salvador Rueda, Paola Viganò, Kees Christiaanse, Susanne Eliasson, Ludovica Molo, Susanne Zenker und Markus Burkhalter. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Baukultur und Transformationsprozesse

Der zweite Themenblock widmete sich weniger dem Kulturkampf als vielmehr den aktuellen sozialen, ökonomischen und politischen Herausforderungen. Wie im ersten Teil der Veranstaltung von Katrin Gügler bereits angetönt, reicht es nicht mehr, sich auf Design, handwerkliche Kompetenz und räumliche Belange zu konzentrieren. Trotzdem wurde das Thema Transformation von einer «traditionellen» Projekte-Präsentation eingeleitet. Die aber hatte es in sich: Aus Dublin zugeschaltet waren Yvonne Farrell und Shelley McNamara. In einem dynamischen und perfekt choreographierten Referat bekannten sich die Pritzker-Preisträgerinnen abwechselnd zu den Werten der Deklaration von Davos und machten klar, dass es sich um internationale, wenn nicht gar universelle Werte handelt. Anhand von vier Projekten ausserhalb Irlands verdeutlichten sie dies: dem Universitätscampus UTEC in Lima, dem Timberlands Center for Design in Fayetteville, der Toulouse School of Economics und dem Town House der Kingston University. Gemeinsam ist diesen Gebäuden die räumliche Entwicklung im Schnitt; äussere Form und innere Raumstrukturen verdeutlichen Sinn und Zweck der Architektur im weitesten Sinne. Sie geben darüber Aufschluss, wo man sich gerade im Gebäude befindet – die Architektinnen sprechen von einer «Educational Idea of Section», einer erzieherischen Vorstellung eines architektonischen Schnitts. Die Projekte zeigen ausserdem allesamt eine überlegte Materialwahl: Im holzarmen Lima wurde aus ökonomischen Gründen Beton verbaut, beim Timberlands Center lokales Holz, in Toulouse aus kontextuellen Gründen Sichtbackstein. Bei jedem Bau fand eine ausgiebige Analyse des Standorts und der lokalen Bautraditionen statt, die in den Entwurf einflossen. Die Baukultur müsse man so pflegen, wie einen Garten, meinte Yvonne Farrell dazu. 

Auf diese Stellungnahme folgte die Präsentation von Projekten, bei denen Stadtgebiete umgestaltet wurden. Susanne Eliasson, eine junge schwedische Architektin, erläuterte den Masterplan für Caudéran. Das Aussenquartier von Bordeaux erfreut sich als Wohnort grosser Beliebtheit. Grundsätzlich ging es um die Verdichtung einer «horizontalen Stadt», als die sich Bordeaux gerne sieht. Eliassons Büro adaptierte Konzepte des amerikanischen Architekten Alfred Newman Beadle V und passte sie dem Quartier an. Investoren würden sich diese inzwischen langsam aneignen, berichtete die Architektin. 

Kees Christiaanse liess die Entwicklung des Masterplans der HafenCity in Hamburg Revue passieren. Die Blocktypologie aus den späten 1980er-Jahren hat sich bewährt und diverse Wendungen in der Ökonomie und der Stadtplanung überdauert. Sie ermöglichte 2010 auch eine Revision des Plans, die eine stärkere Verdichtung erlaubt, und die Integration der Elbphilharmonie, die anfangs gar nicht eingeplant war. Der Masterplan könne auch Störungen und «potthässliche» Gebäude verkraften, meinte Christiaanse zufrieden und fügte an, dass mit der Integration solcher Entwicklungsgebiete in den Stadtraum die Qualität wichtiger werde als die Rendite.

Salvador Rueda, Direktor der Agencia de Ecología Urbana in Barcelona, will die Transformation der Stadt mit sogenannten Supermanzanas, also Superblocks, vorantreiben. Von Barcelonas Strassenraster ausgehend zeigte er, wie man durch die Sperrung von Strassen bestehende Gevierte zu verkehrsarmen Gebieten mit rund 400 Metern Seitenlänge vereinen kann. Dieses Vorgehen lasse sich auch auf andere Städte mit weniger regelmässigen Weg- und Strassennetzen übertragen, versicherte er. Zwar mag sein Vorschlag die Aufenthaltsqualität verbessern, stört er aber nicht das dem Raster von Ildefonso Cerdá eingeschriebene egalitäre Ideal? 

Paola Viganò steht dem Laboratory of Urbanism der EPF Lausanne vor und betreibt in Mailand und Brüssel Planungsstudios. Sie befasst sich mit der Transformation von Gebieten, die eine industrielle Vergangenheit haben und aufgewertet werden sollen, beispielsweise in Rennes, im norditalienischen Lecco, in Rom und auch in Wallonien. Viganò ist der Meinung, dass die besonderen Probleme jedes Entwicklungsgebietes zunächst erkannt werden müssen, bevor einzigartige Lösungen entwickelt werden können.

Bei der abschliessenden Diskussionsrunde gesellten sich nochmals Mitglieder des Stiftungsrates zu den Referent*innen: Ludovica Molo, Präsidentin des BSA, Susanne Zenker, Geschäftsleitungsmitglied der SBB Immobilien, und Markus Burkhalter, VRP Burkhalter AG. Die Runde war sich einig, dass die Pandemie und die Bekämpfung des Klimawandels wesentlichen Einfluss auf die Baukultur haben werden. Kees Christiaanse riet zur Bescheidenheit und forderte, mit Expert*innen aus anderen Disziplinen intensiv zusammenzuarbeiten. Interessant war, dass sich sowohl Susanne Eliasson als auch Paola Viganò gegen eine zu starke Verdichtung aussprachen.

Die Tagung war interessant, doch man blieb weitgehend unter sich. Für die Zukunft wäre wichtige, den Diskurs auszuweiten und mit Menschen aus anderen Fachbereichen ins Gespräch zu kommen. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Mehr Austausch wagen

Der Stiftung Baukultur Schweiz ist es mit ihrer ersten Jahrestagung gelungen, viele verschiedene Standpunkte und Rollenverständnisse aufzuzeigen. Das war sehr interessant. Obwohl allerdings wiederholt partizipative Prozesse angemahnt wurden, hatte man nicht das Gefühl, dass alle Träger*innen der Baukultur gleichwertig vertreten waren. Bildungseinrichtungen und Expert*innen aus der Architektur waren übermässig stark repräsentiert. Meinungen aus anderen Disziplinen, aus der Wirtschaft und der Politik fehlten ein Stück weit. Das ist nicht förderlich, weil sich Feindbilder und Vorurteile verfestigten und vorgefertigte Meinungen nicht hinterfragt werden. Es bleibt noch viel zu tun – der gesamtgesellschaftliche Diskurs über Baukultur muss weiter in Gang gebracht werden, auch wenn das viel Geduld und Energie kostet. 

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