«ETH Forum Wohnungsbau 2015»

Juho Nyberg
2. April 2015
Dicht, ja. Aber auch dicht genug? Bild: wikipedia

Verdichtung ja – aber nicht bei mir! So scheinen viele über eines der drängendsten Themen der städtebaulichen und darum auch gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart zu denken. Und wer könnte es ihnen auch verübeln? Die grössten Schweizer Städte sind historisch gewachsene Strukturen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit auf hauptsächlich Industriebrachen entwickelten neuen Wohnquartieren verzahnt haben, im besseren Fall. Im schlechteren haben sie sich wie in einer mässigen Ehe miteinander arrangiert und existieren so nebeneinander her. Doch die bauliche Entwicklung findet durchaus überall statt. Während Entwicklungsgebiete Gelegenheit bieten, mit grossen Gesten zu arbeiten, gleicht die Arbeit einer Architektin im Gefüge eines altehrwürdigen Quartiers eher jener eines Chirurgen: Das umliegende, gesunde Gewebe gilt es nicht zu beschädigen. Der Eingriff ist erfolgreich, wenn danach neues und altes geordnet miteinander verwächst und möglichst wenig Narben sichtbar bleiben.
 
Von der weiten Aussenperspektive der Keynote von Philosoph Richard David Precht als Auftakt bis zur Auseinandersetzung mit einzeln ausgewählten Quartieren bot das «ETH Forum Wohnungsbau» auch in diesem Jahr eine grosse Vielfalt an Gedanken, Thesen und Beispielen.
 

Nach der Einschätzung von Richard David Precht leben wir in einer Zeit, die ähnliche Umbrüche ans Licht fördern wird, wie es die industrielle Revolution um den Beginn des 19. Jahrhunderts getan hat. Der Einfluss der aktuellen Revolution wird so gut wie alle Lebensbereiche beeinflussen. Wobei jener auf die Städte und den Städtebau eher auf sozialer Ebene, und damit indirekt, stattfinden wird. Die Kraft hinter der Revolution ist die Digitalisierung immer weiterer Lebensbereiche, die mal vehement, mal schleichend unseren Alltag beeinflusst und dabei Veränderungen, die heute unvorstellbar sind, mit sich bringen wird.
 
«There is no free lunch»
Precht macht uns nichts vor: Jede Entwicklung hinterlässt Kollateralschäden, die wir manchmal akzeptieren, manchmal übersehen. Ganze Berufszweige sieht er verschwinden oder sich grundlegend verändern. Ein einfaches Beispiel ist das Überflüssigwerden von Reisebüros. Jeder von uns bucht heute selbst – oder er geht zu einem Spezialisten für besondere Reisen. Hotels und Flüge gibt es via Smartphone auf dem Weg zur Arbeit. A propos Smartphone: Das Gerät, das heute fast gewöhnlicher ist als ein Regenschirm, ist zu einem unverzichtbaren Gegenstand geworden, dessen Nutzung uns auf vielfältigste Weise den Alltag strukturiert und diktiert. Wer hätte das ernsthaft vor 10 Jahren gedacht (das erste iPhone ist vor noch nicht einmal 10 Jahren präsentiert worden)?

Zeugen des Beginns einer neuen Zeitrechnung: Fabrik im 19. Jahrhundert. Bild:wikipedia

Das Smartphone ist auch mitverantwortlich für die berufliche Umstrukturierung unserer Gesellschaft. Vor dem Anruf beim Arzt werden die Symptome schon mal gegoogelt, sodass der Hausarzt sich mit präzisen Fragen herumschlagen muss, statt den Bauch abzutasten. Wie bei den Reisebüros werden auch hier nur die Spezialisten überleben. Der Grossteil der Arbeitskräfte wird sich nach Prechts Einschätzung als Freelancer in einem grossen Arbeitskraft-Pool anbieten, die Arbeitskraft wird auktioniert. Bei aller Digitalisierung ist räumliche Nähe – auch aus sozialen Gründen, doch dazu weiter unten – von Bedeutung, weshalb eine gewisse Aggregation der Arbeitskräfte, vielleicht je nach Fachgebiet, in und um einzelne Städte stattfinden wird. In Deutschland werden Städte wie Berlin, Stuttgart, Hamburg, die bereits heute auf dem dritten Sektor stark sind, über ehemalige Industriestandorte wie Dortmund oder Bochum siegen.
 
Das Auto prägt die Städte – so oder so
Eine weitere massgebliche Veränderung der Städte, diesmal viel unmittelbarer, wird sich durch die Weiterentwicklung des Automobils ergeben. Der heutige fetischisierte Individualverkehr wird zu einem Ende kommen, denn das selbstfahrende Auto wird eine neue Ära einläuten. Die technischen Voraussetzungen für solche autonomen Fahrzeuge sind schon vorhanden: Autos, die selbständig einen Parkplatz suchen und einparken, fahraktive Systeme wie Radar, Abstandsregelung, Erkennen von Geschwindigkeitsbegrenzungen werden bisher nur als «Gimmicks» angeboten. Bündelt man all diese Fähigkeiten, resultiert das selbstfahrende Auto. Das wird aber nicht mehr zum Fetisch taugen, man fährt es nicht mehr selbst, alle Autos werden gleich aussehen – wie heute schon die Smartphones. Schauen Sie sich mal die «Icons» in den Zügen oder auf Flughäfen an.

Es wird ein Auto mit Flatrate geben: man muss keines mehr besitzen, sondern bestellt es über das Smartphone wie ein Taxi. Deshalb werden nur noch so viele Fahrzeuge benötigt, wie wirklich zirkulieren müssen, was einem kleinen Bruchteil der heutigen Zahl entspricht. In Folge können so gut wie alle Parkplätze aufgelöst werden, da kein Bedarf besteht – die Fahrzeuge sind ja ständig in Gebrauch auf der Strasse. Neben dem geringeren Verkehrsaufkommen werden die intelligenten Fahrzeuge auch keine Unfälle mehr produzieren, sie werden leichter sein, weniger verbrauchen. Die Städte werden sich wieder so präsentieren, wie wir es von Fotos aus der späten 19. Jahrhundert kennen: Alleen und Strassenzüge als weitläufige, ruhige Landschaften. Vielleicht mit Urban Gardening auf den nun leer gewordenen Streifen und Piazzafeeling auf jeder Strasse.
 
Zu der Überzeugung, dass diese Entwicklung – vielleicht nicht so, aber in der Tendenz – wirklich stattfinden wird, kommt Precht deshalb, weil jeder Fortschritt reversibel ist – ausser der technische. Was technisch machbar und ökonomisch rentabel ist, wird kommen und sich durchsetzen.

Ist das die automobile Zukunft? Unter den Linden um 1900. Bild: wikipedia

Lifestyle ist nicht Lebensqualität
In boomenden Wohnungsmärkten ist ein Wertewandel in der Quartierentwicklung zu beobachten: die kommerzielle Durchdringung des Marktes durch Investoren führt zur Vernachlässigung einer umfassenden, alle einbeziehenden Quartierentwicklung. An deren Stelle rückt häufig die Bewerbung eines Lifestyles. Jedes beliebige Verkaufsprospekt zeugt von dieser Entwicklung, ohne sich um eine Lösung der Verknappung von Wohnraum zu kümmern.

Die Wiederauferstehung der Städte wird publizistisch gefeiert, doch stimmt dies auch wirklich? Tatsächlich taugt nicht jede beliebige Stadt zum Magneten, die Rückkehr findet nur an ausgewiesenen Orten statt, wo etwa eine Universität oder die Wirtschaft – sprich Arbeitsplätze – als Treiber wirken. Schwache Strukturen hingegen führen zu hohen Leerständen. Neben diesen standortabhängigen Faktoren stehen natürlich auch raumplanerische Instrumente zur Verfügung, um die Urbanisierung zu lenken. Dazu gehört nicht zuletzt die lokale Bauordnung der jeweiligen Gemeinde, die neben manch anderem auch die Dichte der Bebauung regelt. Dies allerdings nur jeweils mit Maximalwerten! Gerade in Gebieten, die für eine geordnete Verdichtung gedacht sind, würden Mindestausnutzungsziffern ein taugliches Mittel darstellen. Die gegenwärtigen Vorschriften zementieren tiefe Dichtewerte, was wiederum der Nachfrage auf dem Markt entspricht.
 
Gute Dichte
Eine hohe Dichte per se ist nichts Negatives. Vielmehr spielt eine Vielzahl anderer Faktoren massgebliche Rollen, um ein Quartier zum Leben zu erwecken oder es am Leben zu erhalten. Gute Karten hat die Stadt Zürich mit der in der Gemeindeordnung festgeschriebenen Entwicklung von bezahlbarem Wohnraum. Andernfalls droht die Verdrängung von Familien und älteren Bewohnerinnen aus ihrem angestammten Umfeld durch finanzkräftige Singles oder Doppelverdiener.

Das Quartier ist die wichtigste Plattform zur Organisation des Miteinander der Bewohner. Gerade älteren Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist es mit seinen sozialen Strukturen und Angeboten von besonderer Bedeutung. Mit dem demografischen Wandel wird sich der Bedarf an Wohnungen verändern: Die Zahl gesunder, aktiver alter Menschen nimmt zu, was es beim Wohnungsmix zu berücksichtigen gilt. Die Grossstadt eignet sich ausgezeichnet als Labor für Alterswohnformen. Auch volkswirtschaftlich lohnt sich die vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Thema: Studien zufolge lässt ein gutes Wohnumfeld die Pflegekosten um bis zu 30% sinken.
 
Robert Kaltenbrunner, Leiter der Abteilung Bauen, Wohnen, Architektur des deutschen Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung postuliert ein «indirektes Arbeiten» an der urbanen Qualität. Guter öffentlicher Verkehr und gewachsenen Zentren mit kurzen Wegen tragen dazu bei und können von der öffentlichen Hand gesteuert, gepflegt und gefördert werden. Der Aufenthalt in öffentlichen Räumen hat an Bedeutung gewonnen gegenüber dem Rückzug in die eigenen vier Wände.
 
Was getan werden muss
Diese Erkenntnisse führt Kaltenbrunner über in Forderungen an Architektinnen, Städtebauer und –planer. Es bedarf einer gezielten Bodenpolitik im Interesse der Gemeinschaft, die schon weit voraus festgelegt wird. Ist eine Parzelle erst einmal verkauft, lassen sich Interessen der Öffentlichkeit kaum mehr durchsetzen, also müssen wichtige Entscheide von den Behörden gefällt werden, bevor ein Investor ins Spiel eingreift. Da Planung per se immer Antizipation ist, plädiert er für eine weitgehende Neutralität und – ebenso wichtig – Revidierbarkeit in Planung und Nutzung. Anstelle kleinteiliger Grundrisse mit quasi fix festgeschriebenen Nutzungen der einzelnen Räume (etwa durch die Lage oder Verkettung in den Grundrissen) sollen mehr grosse Raumfiguren entstehen. Als gutes Beispiel führt Kaltenbrunner die eh schon beliebten Jugendstilwohnungen an, deren Grundrisse in der Regel verschiedene Nutzungen von Räumen erlauben, wodurch die Wohnungen sich mit wenig Aufwand wandelnden Lebenssituationen anpassen lassen.

Öffentliche Räume entstehen durch Nutzung. Es geht darum, eine fühlbare Öffentlichkeit zu entwickeln, in der sich Menschen wohlfühlen. Gebäude und Freiräume sind nicht getrennt, sondern als «Betriebseinheit» zu sehen. Neben sozialer und funktionaler Dichte trägt die Vielfalt öffentlicher Räume dazu bei, dass auch Projekte mit hoher Dichte auf Akzeptanz stossen.

Kaltenbrunners letzte Forderung, nicht zu viel Event und Spektakel zuzulassen, gründet auf der Beobachtung, dass sich sehr viele Städte im Wettbewerb um ein Image befinden, Standortmarketing genannt. Bei dieser Betrachtungsweise geraten die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt ausserhalb des Blickfeldes. Anstelle einer Inszenierung der Stadt sind vielmehr nach innen gerichtete Verbesserungen anzustreben, diese sind der Lebens- und Wohnqualität zuträglich. Andernfalls gerät die Stadt zu einer touristischen Kulisse und die Bewohner zu Laiendarstellern davor.

Mehrwert für Stadtbewohner im Alltag? Eher nicht. Bild: wikipedia

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