Einseitige Liebe?

Ulf Meyer
27. October 2021
SANAA, Hokusai Museum, Tokio, 2016 (Foto © Forward Stroke) 

Auch einseitige Liebe kann innig sein. Während in der Schweiz viele bekannte japanische Architekten unserer Zeit mit zuweilen riesigen und formidablen Projekten vertreten sind, gilt dies andersherum nicht. Das ist doppelt bemerkenswert, weil Schweizer Architekturschaffende ansonsten international sehr gefragt sind. Die Schweiz (und Frankreich) importieren aktuell besonders gerne japanische Architektur – Japans Offenheit für Schweizer Gestaltungen hingegen ist schon eine Weile her: Zwar gibt es in Tokio schöne Werke von Mario Botta (Watari-um Kunstmuseum, 1990) oder Herzog & de Meuron (Prada Aoyama, 2003), aber in den letzten zwanzig Jahren war Japan mit sich selbst beschäftigt und einzig das Miu-Miu-Gebäude wurde 2015 als Nachklapp zum Prada-Bau nach einem Schweizer Entwurf gebaut. Das ist speziell im Vergleich zur Nachkriegszeit mager, als Le Corbusier mit dem Museum für westliche Kunst in Ueno (1957) quasi über Nacht und auf Jahrzehnte hinaus wirksam einen der wichtigsten Stränge der Moderne nach Japan brachte. Sein Esprit nouveau fiel auf fruchtbaren Boden: Eine ganze Generation japanischer Architekt*innen wurde von ihm bei der Erneuerung des Landes geleitet. Im Werk von Tadao Ando ist dieser Einfluss beispielsweise bis heute nachvollziehbar.

Lee Yoshitaka und Yuichi Kodai, Kohtei Kunstpavillon, Shinshoji Zen Museum und Gärten, Fukuyama, 2016 (Foto © Nobutada Omote)
Ländervergleich für Anfänger

An einem allgemeinen Interesse an der Schweiz mangelt es in Japan aber nicht: Die Schweizer Hochschulen und der hiesige Arbeitsmarkt sind auch für Japaner*innen attraktiv. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern sind – wir pauschalisieren hier natürlich – greifbar: Sie sind bergig, reich und ihre Gesellschaften altern. In beiden Kulturen werden Präzision und die Natur gleichermassen geschätzt. Und auch in ökonomischer Hinsicht teilen beide Länder wichtige Werte: Sie sind jeweils entschieden wirtschaftsliberal ausgerichtet und stark exportabhängig. Aber neben den Gemeinsamkeiten gibt es auch immense Unterschiede: Japan ist eine Insel, während die Schweiz im Zentrum eines heterogenen Kontinents liegt. Hier baut man (scheinbar) für die Ewigkeit, dort für durchschnittlich nur zwanzig Jahre. Japan ist – ganz anders als die Schweiz – zentralistisch organisiert, ethnisch homogen und bei seinen Nachbarn unbeliebt. Die Architekturszene im Land der aufgehenden Sonne wird von riesigen Büros auf der einen und «Boutique-Architekten» auf der anderen Seite dominiert – in der Schweiz lässt sich die Mehrheit der Architekturschaffenden Entwurf und Ausführung zum Glück bisher nicht auseinanderdividieren. Auch Urbanisierung und Dichte sind nicht zu vergleichen: In der Schweiz ist die Verdichtung letzthin ein drängendes Thema, in Japan ist sie in viel extremerer Form schon seit Jahrhunderten Realität. Japan ist mehr als zehn mal grösser als die Schweiz und eine Monarchie. Man schätzt dort das Geschmeidige, hierzulande hingegen das Kräftig-Kantige – nochmals, wir verallgemeinern bewusst. Und schliesslich hat das offene Architekturwettbewerbssystem der Schweiz in Japan leider keine Entsprechung – zum Leidwesen insbesondere des Architekturnachwuchses.

Fumihiko Sano, Huas «MoyaMoya», 2014 (Foto © Daisuke Shimokawa) 
Avancen im Jahr 2012

Das Symposium «Learning from Tokyo», das 2012 in Zürich stattfand, änderte den Diskurs. Präsentiert wurden japanische Wohnbauten, die mit kleinem Budget auf winzigen Parzellen ungeahnte Qualitäten schaffen. Die Faszination auf Schweizer Seite war gross, die Übertragbarkeit der Entwurfsansätze aber einfach nicht gegeben. Die «Bonsai-Häuser» stossen hierzulande zwar auf Interesse, das Planungsrecht, die Energieverordnungen, die Brandschutzauflagen und – wichtiger noch – Mentalität, Kultur und Psychologie verhindern jedoch vergleichbare Projekte. Einige Aspekte fanden dennoch Widerhall in der Schweiz: Die unbedingte Bereitschaft zur Reduktion, die aus den Minihäusern in der Megacity Tokio spricht, traf auf die Vorliebe für den Minimalismus in Teilen der Schweizer Architekturszene. Der Blick Richtung Japan führte zwar nicht zur Revision der Schweizer Vorstellungen vom Wohnen, brachte aber immerhin etwas Schwung in die Fachdebatte um neue Wohnformen. Und der japanische Mut zum Experiment wirkte inspirierend. Die Verzahnung von Innen- und Aussenraum, eine Spezialität der japanischen Baukunst, hat ebenfalls gute Chancen, in der zeitgenössischen Schweizer Architektur aufgegriffen zu werden.  

Das Swatch-Gebäude in Biel von Shigeru Ban ist eines der fünf bedeutsamsten Projekte, die japanische Architekturschaffende hierzulande verwirklichen konnten. (Foto © Swatch)
Die Big Five

Die zeitgenössische japanische Architektur eilt in der Schweiz derweil seit Jahren von Grossauftrag zu Grossauftrag und von Welterfolg zu Welterfolg. Fünf Projekte sind dabei besonders hervorzuheben: das Rolex Learning Center von SANAA (2010) in Lausanne, Kengo Kumas «Dach» (2016) gleich nebenan, Shigeru Bans Hauptsitz von Tamedia in Zürich (2013) und sein Swatch-Bau in Biel (2019) sowie Riken Yamamotos «Circle» (2021) am Flughafen Zürich. Die Gebäude dürfen als gelungen gelten, obwohl sie teils polarisieren wie das schwungvolle Projekt von Swatch und auch auf Kritik stossen. Ferner liesse sich der Novartis Campus in Basel mit Gebäuden von SANAA, Fumihiko Maki und Tadao Ando in diese Reihe stellen. 

In Tokio wurden 2014 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150-Jahr-Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Nationen Bauwerke japanischer Architekt*innen hierzulande in der Schau «CH–JP: Bauen im Kontext. Zeitgenössische japanische Architektur in der Schweiz» gezeigt. Der Verstetigung der Beziehungen zwischen Gestalter*innen beider Länder hat sich mittlerweile sogar ein eigener Verein verschrieben – die Japan Swiss Architectural Association (JSAA). Sie bringt ambitioniert und erfolgreich die interessantesten Köpfe aus Japan und der Schweiz zusammen – zum gegenseitigen Gewinn. 

Nikken Sekkei, Gymnastics Center, Tokio, 2020 (Foto © Ken’ichi Suzuki)
Kengo Kuma, Haus «Coeda», Shizuoka, 2017 (Foto © Kawasumi / Kobayashi Kenji Photograph Office) 
Japan in der Reiwa-Zeit

Die Protagonisten aus Japan verstehen es, ihre Architektur mit Erfolg im Ausland zu realisieren. Auf den Pritzker-Preis, die höchste Auszeichnung der Architekturwelt, scheint Japan ein Abo zu haben: Allein seit 2010 wurde er viermal an japanische Büros vergeben (SANAA, Toyo Ito, Shigeru Ban und Arata Isozaki) – ein noch nie dagewesener Ausdruck von Interesse an und Respekt für die Leistungen japanischer Architekturschaffender. 

Doch was macht die zeitgenössische japanische Architektur aus? Was sind ihre Themen? In welchem gesellschaftlichen Umfeld bewegt sie sich, welche Herausforderungen hat sie zu meistern? Wichtig ist zu verstehen, in welcher Situation das Land und seine Baukunst stecken. Viele japanische Gestalter*innen bemühen sich um eine zurückhaltende, vernünftige, einfache und gegenüber der Umwelt, der Gesellschaft und ihren Nutzenden – insbesondere älteren Menschen – verantwortungsvolle Architektur. Aber sie verzichten nicht auf Experimente, Innovationen und reiche räumliche Erfahrungen. Die Skala ist dabei breit gefächert: Von Grossprojekten wie dem Olympiastadion von Kengo Kuma in Tokio bis zu kleineren und regionalen Architekturen wie dem Gemeindehaus auf Naoshima von Hiroshi Sambuichi reicht die Palette, deren gemeinsamer Nenner konstruktive Eleganz, Transparenz, Leichtigkeit und Purismus ist. 

Das Tohoku-Beben und seine verheerenden Folgen in Fukushima haben Japan 2011 einen schweren Schlag versetzt, der sich mit der Home-for-All-Initiative auch massiv auf die Architektur des Landes auswirkt. Im Zuge des Wiederaufbaus hat sich in Japan zu eine neue «Kultur der Bescheidenheit» herausgebildet. Allerdings: Viele Architekt*innen, die sich zunächst ehrenamtlich engagiert hatten, waren bald enttäuscht, als sich herausstellte, dass in vielen Fällen die grossen Baukonzerne Aufträge für neue Siedlungen bekamen, die weder architektonisch noch städtebaulich deutlich über den Entwicklungsstand der 1950er-Jahre hinauskommen. Die aktuelle gesellschaftliche Situation in Japan ist – wie im Westen grundsätzlich auch – von einer niedrigen Geburtenrate und Überalterung geprägt. Dies bringt nicht nur soziale, sondern auch architektonische Herausforderungen mit sich. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft des Landes eine schwierige Phase durchgemacht hat, deren Anfang schon deutlich vor der Corona-Krise lag, und sich erst unlängst langsam wieder erholt. Es ist nur erwartungsgemäss, dass in Japan neue Wohnkonzepte entwickelt werden, wie schon 2016 der Beitrag «Art of Nexus» an der 15. Architekturbiennale von Venedig zeigte. Und während die Lebenserwartungen der Menschen steigt, sinkt jene der Gebäude. Wohnhäuser sind in Japan meist nur für kurze Lebensspannen ausgelegt, was aus europäischer Sicht als wenig nachhaltig erscheint. 

Seit Kaiser Hirohito den Chrysanthementhron bestiegen hat, gilt in Japan eine neue Zeitrechnung. Die Reiwa-Phase, die 2019 begann, war bisher von der Corona-Krise geprägt. Welche Auswirkungen dieses einschneidende kollektive Erlebnis für die Baukunst in Japan und der Schweiz haben wird, gilt es zu beobachten. Ein gemeinsamer Nenner steht einstweilen bereits fest: Es ist die zeitgleiche Wiederentdeckung des Holzbaus in beiden Ländern und eine neue, urbane Verbindung von gebauter und natürlicher Umwelt. Mehr dazu in unseren fünf Interviews, die über die nächsten Monate publiziert werden …

Kengo Kuma, Olympiastadion, Tokio, 2020 (Foto © Japan Sports Council)

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