«Uns interessiert, wie man Geschichte fortschreiben kann – durchaus auf eine freie Art»

Susanna Koeberle
26. mayo 2022
Die Architektur dieser Fussgängerbrücke im Murg-Auen-Park in Frauenfeld stammt vom Büro Staufer & Hasler, die Landschaftsgestaltung von Martin Klauser. Mit Bedacht wurde nach der bestmöglichen Situierung der Brücke in der neu erstellten Auenlandschaft gesucht. (Foto © Conzett Bronzini Partner AG)

 

Architektur ist transdisziplinär. Die Ingenieurwissenschaft scheint das noch in stärkerem Masse zu sein. Wie sehen Sie das?

Jürg Conzett: Ingenieurwissenschaft ist ein schwieriges Wort. Der Ingenieur ist kein Wissenschaftler, er benutzt Wissenschaften, um etwas zu konstruieren. Es geht immer um die Lösung eines ganz konkreten Problems. Tom Peters hat in seinem Buch «Transitions in Engineering», eine Biografie über Guillaume Henri Dufour, nachzuweisen versucht, welche Wissenschaften bei wichtigen Entwicklungen eine Rolle gespielt haben. Unsere Disziplin ist kein geschlossenes Gebilde. Welche Wissenschaften und Disziplinen man berücksichtigt, ist auch subjektiv.

Gianfranco Bronzini: Es gibt zwei Welten bei uns. In der einen geht es um das Technische, also ums Rechnen, Konstruieren und Bauen, die andere hat eine weitergehende kulturelle Bedeutung, denn unsere Bauwerke prägen Landschaften, Siedlungsräume oder Städte. Letztere nimmt man – auch im Studium – weniger wahr, aber raumplanerische, architektonische und verkehrstechnische Themen sind für uns ebenso wichtig. Dort ist die Zusammenarbeit mit anderen Berufsfeldern zentral.

Mich interessiert der Begriff der Baukultur. Gerade Brücken prägen ja ihre Umgebung stark. Wie verstehen Sie diesen Begriff?

JC: Für mich bedeutet er das Fortschreiben einer Geschichte. Für Kultur braucht es ein Wissen. Ein Beispiel: Bei Steinbrücken bestehen bestimmte Konventionen. Uns interessiert, wie man diese fortschreiben kann – durchaus auf eine freie Art. Wir müssen uns nicht verpflichtet fühlen, aber es ist interessant zu verstehen, warum man diese Brücken so gebaut hat. Die Geschichte entscheidet, ob sich etwas bewährt oder nicht, sowohl was die Funktion betrifft als auch das Aussehen. Wir arbeiten in einer Tradition, die glaubt, dass Technik auch Form erzeugt. Entsprechend braucht eine Form einen Grund. Wir machen keine Skulpturen. Bei unseren Brücken kann man auch nichts wegnehmen.

GB: Wir fragen uns, ob es Sinn macht, mit dieser Geschichte so weiterzumachen. Manchmal will man auch eine Entwicklung forcieren mit neuen Materialien oder neuen Konstruktionen. Das hängt ganz stark davon ab, in welchem Kontext man baut. Wir fühlen uns sowohl der lokalen Kultur als auch einer statischen Richtigkeit verpflichtet. Das lässt durchaus Spielraum, um einzigartige Formen zu entwickeln.

 

Jürg Conzett und Gianfranco Bronzini taten sich 1992 zusammen und gründeten ein gemeinsames Büro. (Foto © Lena Amuat)

Brückenbauten gehören zum Schweizer Kulturerbe und haben verschiedene Entwicklungen begünstigt, etwa den Tourismus. Wie schauen Sie auf diese Schweizer Tradition?

JC: Brücken gibt es überall auf der Welt, in der Schweiz einfach besonders hohe. Viel mehr Unterschiede gibt es nicht. Aber wir haben hierzulande eine grosse Vielfalt, was Materialien und Systeme betrifft. Unser Büro macht auch viele Analysen und daraus ergibt sich ein grosser Erfahrungsschatz, der in einem anderen Land sicher anders wäre.

Der Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale von Venedig im Jahr 2010 (mitkuratiert von Jürg Conzett) zeigte eine fotografische Dokumentation dieser Kulturbauten. Ging und geht es auch jetzt darum, das Bewusstsein zu schärfen für die Leistung der Ingenieurskunst?

GB: Dass der Prix Meret Oppenheim dieses Jahr an Bauingenieure verliehen wird, zeigt die kulturelle Bedeutung ihrer Arbeit. In den 1980er- und 1990er-Jahren hatte unsere Disziplin sicher nicht die gleiche positive Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren ist einiges passiert, man spürt das auch auf Bauherren-Ebene. Auch die Verbände tun einiges, um zu zeigen, dass Ingenieurbauwerke ein wichtiger Teil unserer Baukultur sind. So gesehen kommt der Preis jetzt nicht zufällig.

JC: Diese erhöhte Sensibilität äussert sich etwa im Interesse, ältere Brücken zu erhalten. Auch die Denkmalpflege hat begonnen, sich für Infrastrukturen zu interessieren. Das ist etwas Positives.

 

Die Brücke Jenisberg wurde in den Jahren 1905 bis 1908 im Zusammenhang mit dem Bau der Bahnlinie Davos–Filisur erbaut. Für die heutigen Bedürfnisse des Forstdienstes musste sie verbreitert und instand gesetzt werden. (Foto © Conzett Bronzini Partner AG)

Im Jurybericht des Bundesamtes für Kultur (BAK) wird die Spannung zwischen diesem denkmalpflegerischen Reflex und der gestalterischen Freiheit hervorgehoben. Sie haben ganz unterschiedliche Projekte. Wie ist das Verhältnis zwischen den beiden Polen?

JC: Diese Vielfalt macht unsere Arbeit spannend!

GB: Historische Bauwerke wollen wir mit Respekt instand halten. Das hat mit der baukulturellen Wertschätzung der Arbeit zu tun, die in ihnen steckt. Auf der anderen Seite müssen wir manchmal auch Veränderungen vornehmen, zum Beispiel, wenn sich die Sicherheitsvorgaben der Eisenbahnen ändern. Wir müssen dann adäquate Lösungen dafür finden. Dabei sind immer verschiedenen Wege möglich.

JC: Das Buch von Tom Peters, das ich vorhin erwähnt habe, ist für mich diesbezüglich spannend. Er sagt dort, man habe früher mit Überlagerungen gearbeitet. Die Moderne fand, dieses Prinzip komme einem Wirrwarr gleich. Das stimmt nicht, Überlagerung ist überhaupt nichts Dummes. Ich finde es prinzipiell interessant, die Gegenwelt zur geltenden Doktrin zu erkunden. Unsere Arbeit geschieht nicht gemäss einem vorgefassten Reflex. Wichtig ist, ein Gebäude zuerst zu verstehen. Dann kann man weiterreden.

 

Fussgängerbrücke an der Viamala als Seilfachwerkkonstruktion mit treppenartigem Gehweg (Foto © Wilfried Dechau, Stuttgart)

Ich war sehr beeindruckt, als Sie beim Medienrundgang in der renovierten Tonhalle von Ihrer Arbeit dort sprachen. Da ging es ja zunächst um eine detektivische Bestandsaufnahme. Und um das Thema Sicherheit.

JC: Ich war zu Beginn etwas beunruhigt. Denn nur, weil die Gipsdecke 100 Jahre gehalten hat, heisst es nicht, dass sie noch weitere 50 Jahre hält. Man muss sich bei so einem Fall gut überlegen, was man macht. Zunächst haben wir Messungen vorgenommen; das brauchte seine Zeit.

GB: Als ich 1993 nach Chur kam und für das Tiefbauamt Graubünden arbeitete, entstand gerade die Abteilung Erhaltung von Kunstbauten. Der Zustand vieler Brücke war kritisch, es gab einen Notfall nach dem anderen. Es musste etwas unternommen werden, um diese Bauwerke zu retten. Seit dieser Zeit ist viel passiert, die gemachten Erfahrungen resultierten zum Beispiel in einer neuen Norm. Wir konnten ein grosses Wissen aufbauen. Im Ausland hinkt man diesbezüglich zum Teil hinterher.

JC: Diese Arbeit ist die Zukunft unserer Branche, wir haben ja immer mehr Bestand an Bauten.

 

Jürg Conzett (Foto © Lena Amuat)
Gianfranco Bronzini bei der Arbeit. Das Büro Conzett Bronzini Partner umfasst ein grosses trandisziplinäres Team. (Foto © Lena Amuat)

Wie ist der internationale Austausch zwischen Experten?

JC: Vor Kurzem etwa waren wir in Madrid an der Vorbereitung des Footbridge Symposiums, an dem Architekten und Ingenieure teilnehmen werden. Solche Veranstaltungen sind immer spannend. Wir haben zudem international ein grosses Netzwerk und besuchen uns gegenseitig. Das Kennenlernen von lokalen Besonderheiten ist faszinierend, so etwas kann man nur vor Ort verstehen.

GB: Vor zwei Jahren haben wir zum Beispiel bei einem Wettbewerb für die Instandsetzung einer historisch bedeutenden Brücke in Potenza mitgemacht. Wir waren Teil eines italienischen Teams und erreichten den zweiten Platz. Das war eine interessante Erfahrung.

Der Prix Meret Oppenheim wurde nach einer Künstlerin benannt. Was ist Ihr Bezug zur Kunst?

JC: Peter Behrens hat einmal gesagt, der Ingenieur müsse alles begründen, der Künstler nichts. Das stimmt für mich nicht ganz. Auch bei uns ist der Entwurfsprozess wichtig, wir wollen es auch sprudeln lassen können. Am Schluss muss der Entwurf in jeder Beziehung stimmen und begründet sein.
Die Kunst des 19. Jahrhunderts war von der Ingenieurskunst fasziniert. Die Künstler sagten: Wir konstruieren auch! Ein gutes Beispiel für das Verhältnis zwischen Kunst und Ingenieurskunst ist für mich die Brücke Firth of Forth bei Edinburgh. Der Kunsthistoriker Michael Baxandall hat das Buch «Die Ursachen der Bilder» über Piero della Francesca geschrieben, wobei er seine Überlegungen mit der Beschreibung der Firth-of-Forth-Brücke beginnt. Er versucht, den Hintergründen auf die Spur zu kommen, die den Entwurf dieses Bauwerks mitgeprägt haben, und wendet diese Methode anschliessend auf Bilder an. Umgekehrt heute: Die Biografie über Robert Maillart von David Billington heisst «Builder, Designer and Artist». Das Wort Ingenieur kommt darin nicht vor. Das ist schon interessant.
Wir möchten zeigen, dass die Disziplin der Ingenieurskunst etwas Eigenes ist. Was wir tun, ist nicht Kunst und auch nicht Architektur, aber es hat damit zu tun.

GB: Es ist spannend zu sehen, wo sich beide Welten kreuzen. Es sind sicher Analogien da. Denken Sie an den Eiffelturm in Paris: Er war ein temporäres technisches Bauwerk, das eigens für die Weltausstellung gebaut wurde. Einige Künstler und Architekten haben sich zusammengeschlossen und wollten ihn nach der Schau abbrechen. Damals wurde dieses Bauwerk nicht als Ingenieurbaukunst anerkannt. Die Frage stellt sich, wie man das heute einstuft.

 

Der Negrellisteg in Zürich ist eine 140 Meter lange Fussgängerverbindung über das Gleisfeld vor dem Hauptbahnhof. (Visualisierung © Nightnurse Images, Zürich)

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