Österreichs Avantgardisten der 70er: Missing Link

Elias Baumgarten
24. mai 2022
Die Mitglieder der Gruppe Missing Link mit Karl Schwanzer bei den Dreharbeiten zum Fernsehfilm «Die verstossene Stadt» im Jahr 1974 (Foto © MAK)

 

Österreichs Architektur-Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre war eine einzigartige Bewegung, über die hierzulande leider zu wenig bekannt ist. Dabei reicht ihr Einfluss bis in die aktuelle Architekturproduktion und ist noch heute an österreichischen Hochschulen deutlich spürbar. Man spricht auch vom «Austrian Phenomenon». Gruppen wie Coop Himmelblau, Haus-Rucker-Co und Zünd-Up, aber auch Vordenker wie Raimund Abraham oder Hans Hollein und Walter Pichler schufen eindrückliche gesellschafts- und technologiekritische Arbeiten im Grenzbereich zwischen Kunst- und Architektur. Dabei nahmen sie viele Themen vorweg, die uns heute intensiv beschäftigen: Sie befassten sich mit neuen Medien und Technologien wie Virtual Reality, setzten sich mit Genderfragen auseinander, nutzten Mode und Design, um eine veränderte Auffassung von Sexualität zum Ausdruck zu bringen, und thematisierten die Umweltzerstörung. Eine besondere Rolle spielte in ihrem Schaffen immer wieder der Körper – gleich ob bei den Anzügen und Helmen von Coop Himmelblau, die den Träger mit schockierenden Bildern und Gerüchen konfrontierten, oder in Form der Helme und Möbel von Haus-Rucker-Co, die der psychedelischen Bewusstseinserweiterung dienen sollten.

Gerade für das Verständnis der österreichischen Architektur ist diese Zeitperiode noch immer wichtig. Viele Architekturschaffende aus unserem Nachbarland hat sie geprägt und inspiriert, an etlichen österreichischen Architekturschulen hallt sie, wie eingangs erwähnt, bis heute nach. Und unter den jüngsten Architekt*innen Österreichs zeichnet sich ausserdem eine konservativere, unter anderem an der Baugeschichte interessierte Gegenbewegung ab, wie neuere Abschlussarbeiten zeigen. 

Zu den wichtigsten Gruppen der 1970er-Jahre gehört auch Missing Link. Angela Hareiter, Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz gründeten die Gemeinschaft 1970 noch als Studierende, nachdem sie sich an der Technischen Hochschule Wien, der heutigen Technischen Universität, kennengelernt hatten. Gemeinsam wollten sie Architektur und Design neu denken, losgelöst von konkreten Aufträgen und akademischen Dogmen. Das war – nebenbei bemerkt – typisch für eine Zeit, in der der politische Tatendrang unter den Student*innen sehr ausgeprägt war und wohl doch um einiges grösser als heute.

 

Missing Link, «Perforation», 1975 (Zeichnung © MAK)
Missing Link, «Das Flaggschiff», 1978 (Zeichnung © MAK)

Während des zehnjährigen Bestehens der Gruppe äusserte sich die kritische und wenig angepasste, aber dennoch konstruktive Haltung der Mitglieder in einem vielschichtigen Werk, das zuweilen auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregte. Es umfasst neben künstlerischen Installationen, Objekten, Malereien, Zeichnungen und Plakaten auch stadtsoziologische Studien, Aktionen und experimentelle Fernsehfilme. 

Das renommierte Wiener Museum für angewandte Kunst (MAK) konnte 2014 den Vorlass der Gruppe ankaufen und diesen in den folgenden Jahren durch weitere Beschaffungen und Schenkungen ergänzen. Jetzt zeigt das Haus mit der grossen Schau «Missing Link. Strategien einer Architekt*innengruppe aus Wien (1970–1980)» erstmals eine vollständige Aufarbeitung des Schaffens von Missing Link. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den künstlerischen Aktionen und Objekten aus der ersten Hälfte der 1970er-Jahre. Zu sehen sind zum Beispiel utopische Projekte wie Angela Hareiters zeittypische Wohnmodule für flexibles und partizipatives Wohnen in der Zukunft, aber auch Zeichnungen mit geheimnisvollen Fragmenten von Flugzeugen und U-Booten, die als kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg gelesen werden können.

 

Dokumentation der Aktion «Treffen auf dem Feld», Trausdorf, 1972 (Foto: Gert Winkler © MAK)
Foto: Gert Winkler © MAK

Grosse Aufmerksamkeit wird in der Schau der allgemeinen kulturellen Einbettung der Gruppe geschenkt. Das verdient ein Lob, denn es hilft, deren Arbeiten besser zu verstehen. So nutzten die Mitglieder von Missing Link alle ihnen zur Verfügung stehenden Medien. Manche ihrer Aktionen wurden sogar für das Fernsehen dokumentiert und aufbereitet wie «Treffen auf dem Feld» (1972). Die Arbeiten der Gruppe hatten oft auch Bezüge zur Popkultur, wie man sie auch bei anderen Protagonisten der österreichischen Avantgarde findet. Die Ausstellung legt sie mit zusätzlichem Material aus der Schaffenszeit offen. In der Schau werden überdies auch die Verbindungen zu Zeitgenossen aus Österreich und dem Ausland wie Walter Pichler, Hans Hollein, Birgit Jürgenssen, Ettore Sottsass oder Joseph Beuys aufgezeigt, aber auch zu historischen Positionen, beispielsweise von Otto Wagner, Josef Frank, der Architektur des Roten Wien und der Kultur der Wiener Kaffeehäuser. 

Angela Hareiter ist heute Art-Director bei internationalen Film- und Fernsehprojekten. Otto Kapfinger ist Wissenschaftler, Journalist und eine wichtige Grösse im österreichischen Kulturbetrieb. Und Adolf Krischanitz wurde als Architekt international bekannt. Zu seinen wichtigsten Bauten zählt die Kunsthalle Wien (1992). Man fragt sich: Hätten sich die Gruppenmitglieder damals wohl je vorstellen können, dass ihr Schaffen eines Tages im Museum landet? Und wie hätten sie darüber gedacht? Hätten sie ihre Arbeit überhaupt fortgesetzt? Die sehenswerte Ausstellung im MAK dauert noch bis zum 2. Oktober 2022. 

 

Standbild aus dem Film «16. November. Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern», 1972 (Foto: Gert Winkler © MAK)

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