Wenn aus Wertschätzung Liebe wird

1899 Architekten
16. giugno 2022
Ansicht von der Schwalmernstrasse mit Blick in das offene Treppenhaus und auf den Laubengang (Foto: Carolina Piasecki)

 

Herr Suter, Herr Stettler, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Daniel C. Suter: Das Wohn- und Bürogebäude, erbaut 1968, stammt von Karl Müller-Wipf, dem Schwiegersohn von Jacques Wipf – zusammen mit unserem Bürogründer Alfred Lanzrein der wichtigste Thuner Vertreter der Reformarchitektur. Karl Müller-Wipf hat es für sich als Bürostandort konzipiert und gebaut. Christoph Müller, dessen Sohn, führte bis wenige Jahre vor der Renovation das Büro an diesem Standort unter dem Namen Müller & Messerli. Das Besondere der Aufgabe liegt in der Auseinandersetzung mit dem erst 50-jährigen Baudenkmal. Zentral waren das Erkennen, Wertschätzen und behutsame Weiterentwickeln der ihm eigenen räumlichen, technischen und ästhetischen Qualitäten.

 

Ansicht von der Hohmadstrasse: Die Erscheinung des Gebäudes blieb trotz der Betonsanierung und dem Einbau einer Indach-PV-Anlage unverändert. (Foto: Carolina Piasecki)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Bruno Stettler: Wir liessen uns von der Stimmung, die wir in den bauzeitlich materialisierten Räumen vorfanden, inspirieren und leiten. Das Haus strahlt eine schlichte Modernität und eine Prise «Coolness» aus, gerade in der originalen Materialität und Farbigkeit. Die Dachform und die grossen Fensterformate, ja selbst die unterschiedlichen, damals neuartigen Beschläge zeugen von einer Aufbruchstimmung und dem Wunsch, Grenzen auszuloten. Diese Charakteristika wurden bei den notwendigen Sanierungsarbeiten (Sichtbeton-Sanierung, Erdbebenertüchtigung, Neuorganisation von Küchen und Bädern in den Wohnungen, Restauration der Büroräumlichkeiten) bewahrt.

 

Laubengang mit restauriertem Farbkonzept und angepasster Absturzsicherung (Foto: Carolina Piasecki)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen Ihren Entwurf beeinflusst?


DCS: Während der Planungs- und Bauarbeiten an der Schwalmernstrasse 16 hat uns der grosszügige Atelierraum immer mehr gefallen. Als klar wurde, dass wir ihn mieten können, schwanden die letzten Vorbehalte seitens der Bauherrschaft hinsichtlich eines anspruchsvollen Substanzerhalts. Die Wertschätzung der Räume war die Grundlage dafür, dass viele Bauteile erhalten werden konnten, die heute üblicherweise «abgeschrieben» und unter der Guillotine von «Lebensdauertabellen» abgebrochen und ersetzt werden: zum Beispiel Holzfenster, Lamellen-Rollläden und Akustik-Deckenpaneele.

 

Nach der Sanierung konnten 1899 Architekten in den grosszügigen Atelierraum einziehen; fast alle Materialien wurden weiterverwendet. (Foto: Carolina Piasecki)
Die Galerie des Ateliers; Anpassungen wie die Erhöhung der Brüstung wurden mit demselben Material und Farbton wie beim Bestand ausgeführt. (Foto: Carolina Piasecki)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


BS: Aktuell wird die Frage des Substanzerhalts im Diskurs hoch gewichtet, was wir unterstützen. Ein Erhalt der hölzernen Fensterflügel und ihrer raffinierten Beschläge beispielsweise wäre bei einem Einsatz von Dreifachgläsern nicht möglich gewesen. Dank der Unterstützung der Denkmalpflege konnten wir sie ertüchtigen und mit neuen Zweifach-Isoliergläsern ausstatten. Originale Kastenleuchten wurden auf LED umgerüstet, statt sie zu ersetzen. Auf der grösseren der beiden Dachflächen, die nach Südwesten ausgerichtet ist, haben wir eine 300 Quadratmeter grosse PV-Anlage installiert. Aufgrund der Stellung, Ausrichtung und Modernität des Gebäudes schien uns dies an diesem Denkmal angemessen.

 

Das Sitzungszimmer mit originaler magnetischer Wandtafel und dem Besprechungstisch. Für diesen nutzten 1899 Architekten eine im Estrich vorgefundene, bei einer früheren Sanierung demontierte Brüstung weiter. (Foto: Carolina Piasecki)
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


DCS: Fenstererhalt einerseits, PV-Anlage andererseits – was sich nach konventionellem Verständnis widersprechen mag, verdeutlicht unsere Haltung: Jede Aufgabe bedingt eigene, spezifische Lösungen. Was an einem Ort richtig und sinnvoll ist, kann an einem anderen Objekt falsch oder unangemessen sein. In den Eigenheiten jeder Aufgabe, ob Neu- oder Umbau, liegt ihr Potenzial; es gilt, dieses zu entdecken und auszuloten. So entwickelte Massnahmen bringen im besten Fall ein hinsichtlich aller Aspekte der Nachhaltigkeit überzeugendes Projekt.

 

Situationsplan
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Obergeschoss
Schnitt
Bauwerk
Renovation Wohn- und Bürohaus
 
Standort
Schwalmernstrasse 16, 3600 Thun
 
Nutzung
Architekturbüro und 7 Mietwohnungen
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Dominik und Christoph Müller
 
Architektur
1899 Architekten AG, Thun
 
Fachplaner
Bauingenieur (Erdbebensicherheit): Theiler Ingenieure AG, Thun
Bauphysik: Grolimund + Partner AG, Bern
 
Jahr der Fertigstellung
2021
 
Gesamtkosten BKP 1–9 
CHF 1,6 Mio.
 
Gebäudekosten BKP 2 
CHF 1,5 Mio.
 
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Asbestsanierung: Läderach Weibel AG, Thun
Betonsanierung: Phoenix Restauratoren GmbH, Brügg
Fensterrestauration: Schreiner Kilchenmann AG, Worb
Spengler/Steildach: Ramseyer + Dilger AG, Bern
PV-Indachanlage: Allenbach Holzbau+Solartechnik AG, Frutigen
Storenreparatur: Kaiser Storen- und Sonnenschutz, Belp
Küchen: Oesch Innenausbau AG, Steffisburg
Gipserarbeiten: W. Dällenbach AG, Thun
Schreinerarbeiten: Peter Holzbau AG, Blumenstein
 
Fotos
Carolina Piasecki, Thun

Progetto in primo piano

Nau2

Arealüberbauung RB Lägern-Baregg

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