Wirken und werken

Tina Mott
18. gennaio 2023
Foto: © Christian Beutler, Keystone, Schweizer Heimatschutz

Als wir vor fünf Jahren erstmals den Weg über den Wasserfluh-Pass nach Lichtensteig fanden, wurden die Aktivitäten und Entwicklungen rund um den jungen Stadtpräsidenten und sein rühriges Team noch als Geheimtipp gehandelt. Doch was uns zu Ohren gekommen war, hatte bereits die Neugierde geweckt.

Gleich bei unserer Ankunft beobachteten wir erfreut, wie an allen Ecken und Enden der knapp 2000 Einwohner zählenden Gemeinde fleissig gewerkt wurde. Während wir gemütlich durch die dicht gewobenen Gassen des mittelalterlichen Kleinods hoch über der Thur schlenderten, zogen etliche Baustellen und kürzlich sanierte historische Stadthäuser und Geschäftslokale unsere Aufmerksamkeit auf sich. Aus der altehrwürdigen Kalberhalle schallte ohrenbetäubendes Hämmern, die ersten Coworker wirkten im ehemaligen Postgebäude, und leere Parterrelokale wurden durch Kreativität und Einfallsreichtum in ansprechende Ausstellungsflächen verwandelt. Es war augenscheinlich, dass sich hier eine Stadt im Aufbruch befindet, deren Bürger die Gestaltung ihrer Heimatgemeinde wieder selbst in die Hand nehmen wollten.

Foto: © Christian Beutler, Keystone, Schweizer Heimatschutz

Denn wie zahlreiche europäische Kleinstädte litt Lichtensteig seit den 1980er-Jahren unter den Auswirkungen des rapide voranschreitenden Strukturwandels. Nach jahrhundertelanger Prosperität als Markt-, Verwaltungs- und Gerichtszentrum des Toggenburgs verlor die einst blühende Gemeinde zusehends an Wirtschaftskraft und Bedeutung. Da globale Prozesse wie Standort- und Produktionsverlagerungen auch in der Ostschweiz eine Welle der Deindustrialisierung auslösten, mussten zahlreiche Traditionsbetriebe wie auch die Fabriken am Fluss schliessen. Zudem sahen sich Kleingewerbe, Detailhandel und Gastronomie durch das veränderte Konsumverhalten und die zunehmende Mobilität ihrer Kunden mit starken finanziellen Einbussen konfrontiert. Nach und nach schlossen sich die Türen der angestammten Läden und Gaststätten, Verödung und Leerstand griffen um sich.

Als Mathias Müller im Jahr 2012 zum Oberhaupt der Stadt gewählt wurde, war ihm bewusst, dass dieser Ort ein enormes Entwicklungspotenzial besass. Er verstand sich von Anfang an als Impulsgeber, der Prozesse anstösst und begleitet, jedoch nicht den Leuten vorschreibt, was sie zu tun haben. Er wollte vor allem geeignete Rahmenbedingungen für Menschen schaffen, die Ideen haben, um etwas zu bewegen.

Foto: © Christian Beutler, Keystone, Schweizer Heimatschutz
Foto: © Christian Beutler, Keystone, Schweizer Heimatschutz

Bereits sein Vorgänger hatte sich um eine Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Altstadt bemüht und gemeinsam mit diesem das Kompetenzzentrum für Ortskernentwicklung, eine Plattform zum Austausch von Erfahrungen und Fachwissen, geschaffen. Den Eigentümern von Liegenschaften wurde die Möglichkeit geboten, qualifizierte Beratungen zu strategischen Entscheidungen in Anspruch zu nehmen, nachdem Gutachter die Nutzungs- und Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Immobilien geprüft hatten. Darüber hinaus engagierten sich Nachbarn in moderierten Gassenclubs und erarbeiteten gemeinsam Perspektiven für relevante Fragestellungen. Von diesen Interessengemeinschaften konnten Entwicklungsvorschläge an die Gemeinde herangetragen werden, welche die Verantwortung übernahm für die Sicherung der Planungsrechte, die Finanzierung sowie die Durchführung.

Unter dem neuen Gemeindepräsidenten wurden diese Aktivitäten mit viel Fingerspitzengefühl fortgeführt und vertieft. Nur wenige Monate im Amt, lud er die Lichtensteiger ein, an einem breit angelegten Beteiligungsprozess mitzuwirken. Von dieser Zukunftskonferenz inspiriert, bildeten sie anschliessend zahlreiche Arbeitsgruppen zu Themen wie der Energieversorgung, dem Leerstandsmanagement, einem Seniorennetzwerk, aber auch dem Spielplatzbau und einer ökologischen Winzergenossenschaft. Aus einer umfassenden Analyse der Prozesse entwickelte die Gemeinde im Jahr 2016 die Strategie «MINI.Stadt 2025», an deren Umsetzung seither konsequent und kontinuierlich gearbeitet wird.

Foto: © Christian Beutler, Keystone, Schweizer Heimatschutz
Foto: © Christian Beutler, Keystone, Schweizer Heimatschutz

Inzwischen ist die Stadtverwaltung in ein leerstehendes Bankgebäude gezogen und überlässt das denkmalgeschützte Rathaus einem jungen Gründerteam, das dort Kulturanlässe, Konzerte und Ausstellungen organisiert. Und auch im Industriequartier tut sich so einiges, seitdem die Genossenschaft Stadtufer eine verlassene Textilfabrik als partizipativ gedachten Ort für Wohnen, Gewerbe und Ateliers umnutzen will.

Die Liste der realisierten und geplanten Projekte ist lang, doch werden die Massnahmen stets mit Blick auf die einzigartige Bausubstanz getroffen, die es zu erhalten und zu beleben gilt. Dies würdigt der Heimatschutz nun mit dem Wakkerpreis, der seit 1972 jährlich an eine politische Gemeinde vergeben wird, die in Bezug auf Ortsbild- und Siedlungsentwicklung besondere Leistungen vollbracht hat. Der Verein beschreibt Lichtensteig als «selbstbewusste Kleinstadt auf dem Land», die Raum biete zur Verwirklichung von eigenen Visionen und Ideen, um durch aktive Politik die Gemeinde in eine zukunftsfähige Richtung zu lenken.

Tina Mott ist Architektin und Fachpublizistin. Die Entwicklung Lichtensteigs verfolgt sie seit Längerem genau. Für die Artikelserie «Gutes Bauen Ostschweiz» des Architektur Forums Ostschweiz verfasste sie beispielsweise den Beitrag «Der Wandel ist etwas Vertrautes». Tina Mott hat Fotografie, Architektur und Kulturpublizistik studiert. Nach mehreren Jahren als Projektarchitektin unterrichtete sie an verschiedenen Schweizer Hochschulen. Sie lebt in Innsbruck und beschäftigt sich mit Text-, Film- und Theaterprojekten. Zudem unterstützt sie die Redaktion der Architekturzeitschrift Modulør. 

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