Fünf wichtige Bücher 2022: Harald R. Stühlinger entdeckt eine Architekturikone neu, während Patric Furrer, Andreas Jud und Stefan Kurath Ängste vor der Digitalisierung lindern

Elias Baumgarten
15. 12月 2022
Foto: Elias Baumgarten

Gute Bücher bewegen und inspirieren. Zuweilen stimmen sie auch nachdenklich und lösen Diskussionen aus. Wir haben in diesem Jahr fünf Bücher vorgestellt, die wir Ihnen noch einmal ans Herz legen möchten. Denn sie haben uns Neues gelehrt und innehalten lassen. Sie haben uns beschäftigt und in Austausch mit Kolleg*innen gebrachte, aber auch interessante Einblicke gewährt. 

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Das Ende der Kritik?

Das Bauen befindet sich im Umbruch. Die Klimakrise und die Verknappung von Ressourcen, aber auch nachhaltig beeinträchtigte Lieferketten und die immer raschere Teuerung erzwingen Veränderung. Schlechte Bauten können wir uns eigentlich gar nicht mehr leisten. In Zeiten wie diesen sollte das kritische Schreiben über Architektur Konjunktur haben. Doch die Architekturkritik kriselt. Die von Wilfried Wang herausgegebene Aufsatzsammlung «On the Duty and Power of Architectural Criticism» könnte wieder Schwung in die Disziplin bringen. Das Buch ist besonders für all jene, die selbst leidenschaftlich über Architektur schreiben und diskutieren, eine spannende Lektüre. Daran ändert auch die schwache Buchgestaltung wenig, obschon sie die Lesefreude doch empfindlich schmälert.

Uns hat das Buch nachdenklich gemacht. Denn der Architekturjournalismus, ja das Schreiben über Kulturthemen als Ganzes scheint eine vom Aussterben bedrohte Disziplin zu sein. Auch geschätzte Kolleg*innen beschäftigt das Thema, und das Buch hat unter uns eine rege Debatte ausgelöst. Sabine von Fischer, Redaktorin bei der Zeitschrift tec21 des Verlags Espazium, hat in der Folge einen Kommentar zur Architekturdebatte in den sozialen Medien und zur Lage des Architekturjournalismus geschrieben, den espazium.ch und wir gemeinsam veröffentlicht haben.

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Die Wiederentdeckung einer Tessiner Architekturikone

Luigi Snozzi selbst hielt die Casa Kalman für sein wichtigstes Wohnhaus. Doch Paula Kalman-Fränkel, die ihn mit dem Entwurf beauftragt hatte, war zunächst wenig angetan: Die Waschbecken waren ihr zu klein, in den Abortschüsseln sah sie billige «Ladenhüter». Die Räume waren ihr zu hellhörig, und die grosse Fernsehantenne auf dem Dach fand sie hässlich. Mit der Zeit aber lernte sie ihr Haus schätzen. Aus Missfallen wurde Stolz. 

Unter Architekturbegeisterten jedoch geriet Snozzis ikonischer Bau in Brione sopra Minusio zusehends in Vergessenheit. Nur wenigen war das Haus zuletzt noch ein Begriff. Das änderte sich, als der Architektur-, Städtebau- und Fotografiehistoriker Harald R. Stühlinger durch einen Zufall Vera Brunner-Kalman kennenlernte, die Tochter der Bauherrin. Die beiden freundeten sich an, und schliesslich reifte die Idee, ein Buch über die Casa Kalman zu schreiben. «Casa Kalman – Luigi Snozzi» befasst sich eingehend mit dem Haus und seiner Nutzung. Das Buch gibt Einblick in den Entwurfsprozess und zeigt beispielhaft, wie Snozzi mit seinen Bauherr*innen zusammenarbeitete. Von Pascal Storz, Fabian Bremer und Hannes Drissner liebevoll gestaltet, gehört es mit seinen präzise ausgearbeiteten, gut geschriebenen Texten zu den rundum gelungensten Architekturbüchern, die wir in den letzten Jahren besprechen durften. Man spürt sofort den Anspruch aller Beteiligten, etwas Schönes zu schaffen. 

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Eine Inspirationsquelle für engagierte Lehrer*innen

Was und wie gebaut wird, ist eine hochpolitische Frage, denn die gebaute Umwelt hat Einfluss auf die Lebensqualität eines jeden Einzelnen. Kindern und Jugendlichen baukulturelles Grundwissen zu vermitteln, ist darum wichtig. Doch wie sollen Lehrer*innen das leisten? Auf sie prasseln bereits unzählige Wünsche und Forderungen ein, was sie in ihrem Unterricht alles behandeln sollen. Viele fühlen sich alleingelassen und für die Baukulturvermittlung nicht ausreichend vorbereitet. Beispielstunden als Inspiration und neue Lehrmittel würden ihnen helfen, sagen sie.

Hier setzen Noëlle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz mit dem Buch «Kinder erkunden die lokale Baukultur» an, das auf einem Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Schwyz basiert. Die vorgestellten Praxisbeispiele sind kompakt beschrieben und inspirierend bebildert. Immer umfasst die Präsentation eine diagrammatische Darstellung der Unterrichtseinheit, einen Beschreibungstext, Fotos sowie Hinweise zu den benötigten Werkzeugen, Materialien und zu weiterführender Fachliteratur. Es handelt sich also keineswegs um die trockene Aufbereitung einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern um ein Lehrbuch für Lehrende. Auch für Architekt*innen ist die Lektüre spannend, zumal einige bereits die Initiative ergriffen haben und einzelne Unterrichtsstunden übernehmen.

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Architektur lernt man nicht allein

Als die ArchitekturWerkstatt St.Gallen aufgebaut wurde, rief das etliche Kritiker auf den Plan. Sie monierten, die Schweizer Bildungslandschaft sei bereits dicht genug. Doch innerhalb weniger Jahre hat sich die Ostschweizer Architekturschule etabliert. Begründet liegt der Erfolg im besonderen Lehrkonzept: In St.Gallen lernen die Studierenden miteinander und voneinander, ihre Lehrer*innen betreuen sie dabei eng, und der Kontakt zwischen Schule und lokaler Bauwirtschaft ist intensiv. Zudem spielt das Handwerkliche noch eine zentrale Rolle in der Ausbildung, ohne dass darüber aber vergessen geht, die Student*innen auf die Zukunft vorzubereiten und mit digitalen Werkzeugen vertraut zu machen. So stehen zum Anfang der Ausbildung Handzeichnungen, Gipsmodelle und Linolschnitte im Vordergrund, erst später wird auch an digitalen Modellen gearbeitet.

Das Buch «Architektur als Werkstatt» gewährt einen Einblick in den Unterricht an der ArchitekturWerkstatt. Dies geschieht durch über 1500 Fotos und Pläne. Damit es nicht bei einem Bilderbuch bleibt, kommen lesenswerte Aufsätze hinzu, die ein vertieftes Verständnis ermöglichen. Besonders interessant ist das Buch für all jene, die selbst unterrichten oder sich gerade mit dem Gedanken tragen, Architektur zu studieren. 

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Eine Portion Realismus gegen düstere Zukunftsvisionen

Viele Architekturschaffende erfüllt «die Digitalisierung» mit Sorge. Sie befürchten, in ihrer Kreativität eingeschränkt, von anderen am Bau Beteiligten bevormundet oder gar eines Tages durch künstliche Intelligenz ersetzt zu werden. Andere erfüllen ungeklärte juristische Fragen, die sich zum Beispiel im Zusammenhang mit der Einführung der BIM-Methode stellen, mit Argwohn oder sie gehen von einer weiteren Verschlechterung der Honorarsituation aus. Viele Bücher und Artikel schüren diese Ängste noch, statt die Gefahren nüchtern zu besprechen und die neuen Möglichkeiten aufzuzeigen. 

Anders «Digitalisierung und Architektur in Lehre und Praxis», herausgegeben von Patric Furrer, Andreas Jud und Stefan Kurath: Ohne technologiefeindlich zu sein, weisen die Autor*innen der Aufsatzsammlung auf die Gefahren digitaler Werkzeuge hin: Zum Beispiel zu vergessen, dass der virtuelle Raum keine Kopie des physischen ist. Oder darauf, dass sie die Entstehung einer Architektur begünstigen, die nur noch die Augen anzusprechen vermag und andere Sinneseindrücke vernachlässigt. Das lesenswerte Buch, das am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen der ZHAW entstanden ist, fordert uns durch die Besprechung von Praxisbeispielen auf, künftig zu hinterfragen, wann digitale Werkzeuge tatsächlich sinnvoll sind. Es zeigt, inwiefern sich Architektur durch die Digitalisierung nicht verändern wird und welche Fähigkeiten Architekturschaffende auch künftig unentbehrlich machen. Mancher mag wegen der unbequemen Thematik wenig Lust verspüren, das Buch zur Hand zu nehmen. Doch nach der Lektüre blickt man optimistischer und mit mehr Mut in die Zukunft, wenn auch gewiss nicht sorglos.

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