Berühren und berührt werden

Ulf Meyer
29. 11月 2021
Thomas Hildebrand und sein Team haben die neue Firmenzentrale des Tourismusanbieters Hapimag gestaltet (links). Ryoko Iwase renovierte 2014 ein Atelier in Tokio. (Fotos: Roman Keller, Atsushi Maya)


Viele Menschen auf der ganzen Welt mögen Japan – aus guten Gründen. Ich kenne kaum einen Architekten, der sich nicht für Japan interessiert. Doch Ihr Interesse, Herr Hildebrand, geht tiefer. Woher rührt es? Es gibt zwei Aspekte in Ihrer Arbeit, die sich auf Japan beziehen: Einerseits widmen Sie Details grosse Aufmerksamkeit, andererseits sind Sie fasziniert von Japans reicher Holzbautradition.

Thomas Hildebrand: Zunächst ist mein Interesse an Japan biografisch bedingt. Meine Partnerin, mit der ich im selben Dorf aufgewachsen bin, ist Halb-Japanerin. Sie hat mich in die japanische Kultur eingeführt. Ihre Mutter ist eine japanische Bildhauerin, wir haben Familie in Tokio und fahren seit 20 Jahren regelmässig nach Japan – fast jedes Jahr.
Ich habe viele Aspekte der japanischen Kultur kennengelernt und bin begeistert davon. Japan kann vertraut, aber auch fremd sein. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich zu verstehen glaube, was los ist – aber dann verstehe ich plötzlich nichts mehr. Das löst meine Faszination aus. Ich bin sicher, Sie kennen dieses Gefühl selbst. Es ist Neugier. 
Im Büro haben wir nicht nur gute Beziehungen zu befreundeten Architekten aus Japan, sondern auch zu Künstlern. Wir haben ein Austauschprogramm mit dem Atelier Sandwich, einer kreativen Plattform für verschiedene Disziplinen in einer alten Fabrik bei Kyoto. Seit mehr als zehn Jahren gehen Mitarbeiter unseres Büros dorthin, im Gegenzug heissen wir Japaner bei uns willkommen. Manche bleiben sogar dauerhaft als Angestellte bei uns. So wird unsere Arbeit kontinuierlich japanisch beeinflusst. 
Obwohl die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebauten Städte in Japan oft nicht schön sind, gibt es «Momente der Aufrichtigkeit», die ich wunderbar finde – unzählige Blumentöpfe in den Strassen zum Beispiel, die sorgfältig gepflegt werden. Diese Achtsamkeit findet man im Alltag, aber auch in der Architektur. Es gibt Parallelen zwischen der japanischen und der Schweizer Architektur. Die Ästhetik ist vergleichbar: einfache Entwürfe, Liebe zum Detail und zum Handwerk, die Verwendung von Holz. Und es gibt auch überraschende Ähnlichkeiten, wenn man die historische Architektur beider Länder betrachtet.

Der Glaspavillon von Ryoko Iwase für die Firma AGC Asahi Glass wurde in der «Under 30 Architects Exhibition 2013» gezeigt. (Modellfoto © Ryoko Iwase)
Modellfoto © Ryoko Iwase

Holzarchitektur ist in Japan heute fast tot. Denn es ist verboten, Holz bei Bauten, die höher als zwei Stockwerke sind, einzusetzen. Holz kann oft nur für Oberflächen verwendet werden, nicht jedoch als Tragwerk.

TH: Brandschutzvorschriften sind für den Holzbau entscheidend. Und hier gibt es in Japan Aufholbedarf. Dasselbe gilt für eine zeitgemässe Holzindustrie. Doch es gibt viele wunderbare kleine Holzbauten. Und im Bereich Holz und Gesundheit wird in Japan viel geforscht. 
Hinter dem Material verbirgt sich ein bestimmtes Verhältnis zur Natur, das sich von der westlichen Kultur unterscheidet. In Japan steht der Mensch nicht über der Natur, er ist ein gleichwertiger Teil von ihr. Alles hat einen kami (Geist). Emotionen werden gerne mithilfe von Naturbegriffen ausgedrückt – zum Beispiel mit dem Bild der Kirschblüte: Sie ist nicht nur schön, sondern auch ein Ausdruck der Vergänglichkeit. Das Verhältnis zur Natur ist in der christlichen Tradition hierarchisch. Das mittelalterliche Konzept der Natur sah vor, dass alles im Himmel und auf Erden eine Schöpfung Gottes ist. Der Mensch war dabei eine besondere Kreation und stand oben, es folgten die Vögel, weitere Tiere, die Pflanzen und schliesslich die Steine. Das ist in unserem Denken immer noch verankert. Der Klimawandel zwingt uns, unser Verhältnis zur Natur zu überdenken. In dieser Hinsicht gibt es viel, das wir von der japanischen Kultur lernen können.

Im Mokuzai-Kaikan-Gebäude in Tokio wurde mir an einer Besichtigung erklärt, dass die CNC-Fräse ein Schlüssel zur Wiederentdeckung des Holzbaus in Japan sein könnte, da sie Holz billig, schnell und präzise schneiden kann. Ein Grossteil der Kosten im Holzbau entfällt heute auf das Handwerk. Arbeit ist in Japan extrem teuer. 

TH: Die Technologie hat im Holzbau in den letzten Jahren eine viel schnellere Entwicklung durchlaufen als bei jedem anderen Material. Diese Fortschritte werden jetzt durch die Debatte über den Klimawandel ergänzt. Es ist unsere wichtigste Aufgabe als Architekten, die Bauindustrie zu dekarbonisieren. Allein die Zementproduktion verursacht 6 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Das Bauen und Betreiben von Gebäuden macht 38 bis 40 Prozent aus. Es ist logisch, dass Holz wiederentdeckt werden muss, und die nötige digitale Technologie steht bereit. 
Holzbau bedeutet ausserdem Vorfertigung. Ich bin sicher, dass es eine Revolution am Bau geben wird und dass wir uns mitten in einem Wandel der Bauindustrie befinden, bei dem Holz eine grosse Bedeutung zukommt. Wenn wir 50 oder sogar 100 Mal mehr Holz verwenden würden als jetzt – was wären die Konsequenzen für die Forstwirtschaft? In der Schweiz nutzen wir unsere landwirtschaftlichen Flächen im Mittelland derzeit hauptsächlich für die Lebensmittelproduktion. Die Agrarwirtschaft wird aber immer effizienter, sodass mittelfristig weniger Platz benötigt wird. Können wir einen Teil dieses Raumes wieder zu Wäldern machen?

Ryoko Iwase: Ich interessiere mich auch für den Umgang mit Holz und die CNC-Technologie. Ich habe besonders über einen interessanten Aspekt des Materials nachgedacht: seine Schwäche und Vergänglichkeit. Alte Tempel werden in Japan nicht nach westlichen Vorstellungen abgerissen. Stattdessen werden Bauteile laufend ersetzt. Jedes Element, ein Balken oder ein Träger zum Beispiel, hat darum ein anderes Alter; einige sind neu und andere alt. Die Menschen müssen sich immer weiter um das Gebäude kümmern.

Ryoko Iwase liess zur heurigen Architekturbiennale ein zerlegtes Haus aus Japan nach Venedig transportieren. (Illustration © DDAA + village)
Die Kizu-River-Waterfront in Osaka; das Projekt ging aus einem offenen Architekturwettbewerb hervor, was in Japan eine seltene Ausnahme darstellt. (Foto © Masato Ikuta)

Iwase-san, bei Ihrem Beitrag für Japan zur 17. Architekturbiennale von Venedig (Kurator Kozo Kadowaki) geht es darum, ein Haus in Tokio zu zerlegen und nach Venedig zu transportieren, wo es im japanischen Pavillon ausgestellt, aber nicht wieder zusammengebaut wird. Die Idee bezieht sich auf die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, als es nicht ungewöhnlich war, «exotische» Architektur im Massstab 1:1 zu zeigen. Aber das translozierte Haus in Venedig ist kein Tempel oder eine Villa, sondern ein ganz gewöhnliches Wohnhaus.

RI: Richtig, für den Pavillon haben wir ein Holzhaus aus dem Jahr 1955 nach Venedig gebracht. Es gibt mehrere Gründe dafür: Zunächst ist das Gebäude interessant, weil die Familie, die es bewohnte, es ständig verändert und erweitert hat. Erst als neue Materialien und Montagetechniken aufkamen, hörte sie damit auf. Der Sohn des Hausbesitzers sagte uns dazu, er könne mit dem hermetischen Tragwerk nicht mehr «kommunizieren». 
Hinzu kommt, dass der grösste Teil des japanischen Budgets für die Biennale traditionell für Reise- und nicht für Baukosten ausgegeben wird. Es wurde jüngst viel auf digitale Darstellungen, Pläne und Modelle gesetzt. Doch nur physische Objekte im Massstab 1:1 können die Distanz und die kulturellen Unterschiede zwischen Japan und Italien zum Erlebnis machen. Wir haben also darüber nachgedacht, wie wir dem Transport selbst eine Bedeutung geben könnten. 
Und schliesslich sagte unser Grafikdesigner Nagasaka Jo während des Wettbewerbs: «Architektur verursacht viel Abfall und Energieverschwendung. Man muss etwas dagegen tun.» Also entschieden wir, gerade das besagte Haus, das abgerissen werden sollte, zu translozieren. Wir wollten noch etwas mit ihm anfangen, damit es nicht einfach auf dem Müll landet.

Detail der Uferpromenade von Osaka (Foto © Shingo Kanagawa)
Ryoko Iwase, Kinderheim (Modellfoto © Ryoko Iwase)
Modellfoto © Ryoko Iwase

TH: Das ist eine schöne, kreative und poetische Art, mit Abfall und Wiederverwendung umzugehen. Es ist das Gegenteil der letzten 20 Jahre, als es an der Biennale meist um heroische Aussagen ging. Sie versuchen hingegen, eine Bedeutung im Altern und der Vergänglichkeit zu finden, auch in Bezug auf die Rolle des Architekten, die sich ja verändert. Das ist radikal.

Es zeigt, wie reif Japan im Vergleich zu seinen Nachbarn Korea und China ist, bei denen es immer noch um Quantität, Wachstum und Massenproduktion geht. Japan befindet sich bereits in einer anderen Ära. Iwase-san, Herr Hildebrand hat es bereits angedeutet: Schönheit in Japan kann im kleinen Massstab gefunden werden, in der Präsentation einer Mahlzeit zum Beispiel, aber der grosse, urbane Massstab ist ein totales Durcheinander ohne Gestaltung. Es mangelt nicht am Talent oder Willen, aber Gebäude in Japan sind nicht von Dauer, sondern ephemer. Jeden Moment könnte ein Erdbeben, ein Tsunami oder ein Feuer die ganze Stadt zerstören. Wie kann man Städtebau in einem Land betreiben, in dem es keinen Städtebau gibt? 
In Osaka waren Sie für die Gestaltung der Kizu-River-Waterfront verantwortlich. Wer bezahlt und beauftragt solche Projekte in Japan? 

RI: Es ist traurig zu hören, Japan habe keinen Städtebau! Doch es ist leider wahr, wir haben nicht viele schön gestaltete Stadträume. Allerdings ändert sich daran gerade etwas. Es wird mehr unternommen, um Strassen, Parks oder Plätze besser zu gestalten. Die Menschen fordern das. Vielleicht ist die Pandemie als historische Zäsur ein guter Zeitpunkt dafür. 
Die Uferpromenade in Osaka, die Sie ansprechen, ist mein Erstlingswerk, für das ich vor 9 Jahren den Wettbewerb gewonnen habe. Ich habe damals noch für Kengo Kuma gearbeitet und eröffnete nach diesem Erfolg mein Büro. Man muss wissen, es gibt bei uns in Japan viele Wettbewerbe nur für Ingenieure, Architekten können daran nicht teilnehmen. Darum war das Projekt epochal: Es basierte auf einem offenen Architekturwettbewerb. 

Gibt es einen Trend in Japan, Architekten mehr an Wettbewerben zu beteiligen?

RI: Neuerdings möchte gefühlt jeder Bauherr einen Architekturwettbewerb veranstalten. Man darf sich aber nicht täuschen lassen und gleich euphorisch werden: Der Wettbewerb von Osaka ist bisher trotz allem ein Einzelfall geblieben. Ich hoffe auf mehr!

Thomas Hildebrand, Wohnung in der Hadlaubstrasse, Zürich (Foto © Andrea Diglas)
Foto © Andrea Diglas

Lassen Sie uns etwas springen: Herr Hildebrand, Sie arbeiten mit der JSAA (Japan Swiss Architectural Association) zusammen. Was machen Sie genau?

TH: Die JSAA wurde von Japanern gegründet, die in der Schweiz gearbeitet haben, dann nach Japan zurückgekehrt sind und nun den Kontakt aufrechterhalten möchten. Ich bin Vorstandsmitglied von zwei Institutionen in Zürich, dem Architekturforum und dem Zentrum Architektur. Wir haben mit der JSAA eine jährliche «Japan-Night» initiiert, um unsere Beziehungen zu stärken und über gemeinsame Themen zu sprechen. Es ist ein sehr geselliges Format.

Worin sehen Sie dabei den grössten Gewinn?

TH: Es gibt so viele Ähnlichkeiten, aber gleichzeitig auch so grosse Unterschiede zwischen Japan und der Schweiz – von diesem Austausch können wir also alle lernen. Viele Beispiele japanischer Architektur sind mutig und radikal. Mich inspirieren die Arbeiten von Junya Ishigami oder das Teshima Art Museum von Ryue Nishizawa und der Künstlerin Rei Naito. Schweizer Architektur ist in anderen Aspekten Avantgarde. Es gibt Intensität auf beiden Seiten. Es wäre grossartig, wenn wir diesen Diskurs weiter ausbauen könnten.

In meinem einleitenden Aufsatz zu dieser Interview-Serie behaupte ich, dass die «Liebe» zwischen japanischen und Schweizer Architekten einseitig sei. Es scheint gegenseitiges Interesse zu geben, aber Aufträge gehen nur in eine Richtung. Shigeru Ban, Riken Yamamoto, Kazuyo Sejima und andere konnten grosse Projekte in der Schweiz realisieren, doch in Japan gibt es kein Äquivalent dazu. Kein zeitgenössischer Schweizer Architekt hat in den letzten Jahren in Japan etwas Bedeutendes gebaut – mit Ausnahme von Herzog & de Meuron. Die Schweiz ist viel einladender für ausländische Architekten als Japan. Würden Sie das bestätigen?

TH: Natürlich. Der Auftrag, den wir für die Gyre Gallery in Tokio bekommen haben, kam über private Verbindungen zustande: Yuichi Kodai, der für uns arbeitet, hat ihn aus Japan mitgebracht. Wir haben das Projekt zusammen entworfen. Die Erfahrung beim Bauen in Japan war ähnlich wie in der Schweiz. Es gab gute Handwerker und Generalunternehmer. Man braucht jedoch zwingend jemanden, der Japanisch spricht, sonst wird es schwierig.

Die Bauarbeiter haben in Japan einen höheren Stellenwert, verdienen mehr Respekt und haben mehr Achtung vor sich selbst. Den «Gentleman-Bauarbeiter» japanischer Prägung habe ich auf einer mitteleuropäischen Baustelle noch nie gesehen. Das Selbstwertgefühl und der Stolz, den Japaner in ihre Arbeit stecken, erleichtern so manches. Deshalb könnte es trotz Sprachbarrieren und kulturellen Unterschieden sowie der räumlichen Distanz einfacher sein, in Japan zu bauen. 

TH: Man muss in der Schweiz zwischen Bauarbeitern und Zimmerleuten beziehungsweise Schreinern unterscheiden. Während Betonbauer und Maurer gute Arbeiter sein mögen, identifizieren sich Zimmerleute stark mit ihrem Material und ihrem Beruf. In Japan ist das über alle Gewerke hinweg noch stärker ausgeprägt.

Iwase-san, was reizt Sie als Japanerin an der Schweiz?

RI: Ich arbeite für ein Jahr als Architektin in der Schweiz. Ich wollte hierher kommen, weil ich die Schweizer Architektur und insbesondere ihren Umgang mit Material schätze. Manche sprechen hinsichtlich der Schweizer Architektur abschätzig von «Kisten». Doch das ist ungerecht und falsch. Die Formen mögen zuweilen einfach sein, aber die Behandlung des Materials ist dafür auf höchstem Niveau. 
Ich habe nie darüber nachgedacht, ob japanische Architekten in der Schweiz erfolgreich sind oder umgekehrt. Aber Ihre Beobachtung stimmt, Herr Meyer. Aktuell ist es in Japan für Architekten allerdings grundsätzlich schwierig, grosse Projekte zu realisieren. Unser Vergabesystem ist leider exklusiv und basiert auf Referenzen. Wettbewerbe gibt es, wie schon gesagt, wenig bis gar nicht. In Japan wählt man Architekten danach aus, wie viel Honorar sie verlangen und vor allem wie viele vergleichbare Bauten sie vorzuweisen haben – nicht nach ihren Ideen.

Das Klima ist innovationsfeindlich, und junge Architekten haben kaum eine Chance. In Teilen Europas, in meiner Heimat Deutschland etwa, haben wir ganz ähnliche Probleme. Die Bauherren scheinen jedes Risiko zu scheuen …

RI: Ich war überrascht über die Rolle der Stimmbürger bei Projekten in der Schweiz. Eine vergleichbare Möglichkeit zur Mitsprache haben wir in Japan nicht, und die Menschen tun sich schwer, Architektur zu beurteilen. Verglichen mit der Schweizer Bevölkerung ist ihre Bildung in Bezug auf Architektur gering. Anders als in der Schweiz misstrauen viele Japaner Architekten. Während Ärzte und Anwälte bei uns durchweg hohes Vertrauen geniessen, sind den meisten überhaupt nur die Architekten Kuma und Ando bekannt. Wir müssen das Ansehen unseres Berufsstands in der Gesellschaft verbessern.

TH: Wobei man leider sagen muss, dass auch in der Schweiz das Vertrauen schwindet. Aber klar, im Vergleich zu unseren Kollegen im Ausland sind wir sicher in einer privilegierten Position. Unsere Regierung unternimmt diverse Anstrengungen, um die Baukultur in Gesellschaft und Politik zu verankern. Dies ist auch ein zentrales Thema bei uns am Zentrum Architektur Zürich.

Sind die Schweizer involvierter, weil sie abstimmen müssen? Mir scheint, die direkte Demokratie zwingt zur Auseinandersetzung mit vielen Themenfeldern und also auch mit der Architektur.

TH: Das ist ein guter Punkt, und es tut manchmal weh: Ich hatte schon zwei Projekte, die bei Abstimmungen abgelehnt wurden. Im Fall einer kleinen, schönen Kirche war das besonders schwer zu akzeptieren. Wenn Projekte nach langer Arbeit bachab geschickt werden, ist das hart. Das ist die Kehrseite der Medaille.
Ein weiteres Privileg für Architekten in der Schweiz ist indes ihr direkter Zugang zur Baustelle. Traditionell verwalten und kontrollieren wir unsere Projekte. Die zunehmende Spezialisierung verändert dies jedoch. Ich hatte früher ein Büro in Holland. Dort machst du den Entwurf und wirst dann erst wieder zur Eröffnung des Gebäudes eingeladen! Mit der zunehmenden Spezialisierung, die leider logisch aus unserem Wirtschaftssystem resultiert, müssen auch wir in der Schweiz uns damit auseinandersetzen.

RI: Ich möchte Menschen mit meiner Architektur anziehen und begeistern. Es ist traurig, aber viele Japaner interessieren sich nicht sehr für Raum – allenfalls lassen sie sich durch schönes Material gewinnen. Eine der interessanten Erfahrungen des ersten Pandemie-Jahres, in dem wir viel Zeit online verbracht haben, war, dass dadurch ein stärkeres Bedürfnis nach Sinnlichkeit entstanden ist. Dieses könnten wir als Architekten nutzen. 

Thomas Hildebrand, Wasserhaus am Blausee (Foto © Erica Overmeer)

Nachdem wir schon über einige Projekte von Iwase-san gesprochen haben, möchte ich zum Abschluss noch zwei Ihrer Bauten thematisieren, Herr Hildebrand. Wenn jemand über Ihr Wasserhaus am Blausee schrieben würde, dass es eine japanische Ästhetik habe, würde Ihnen das gefallen?

TH: Ich würde es als Kompliment auffassen. Aber solche Assoziationen sind nicht unser Ziel. Das Thema war vielmehr die Bewahrung der kulturellen Kontinuität. Die japanische Topographie besteht zu einem Drittel aus Bergen, ähnlich ist das bekanntlich auch hierzulande. Der Blausee ist ein poetischer Ort im Berner Oberland. Er ist stark in der Geschichte des Schweizer Tourismus verankert. Diese wollten wir fortschreiben, ohne aber sentimental oder nostalgisch zu sein. Wir haben eine traditionelle Gebäudeform gewählt, die – ähnlich wie man es wohl in Japan tun würde – einen starken Bezug zur Landschaft aufweist.  

Und wer geniesst das Privileg, in Ihrer Wohnung in der Zürcher Hadlaubstrasse zu leben?

TH: Die Eigentümer haben viele Jahre in Japan gelebt und einen starken Bezug zur japanischen Kultur. Sie baten uns, einen japanischen Raum mit hölzernem Ofuro-Bad zu entwerfen. Stark beeinflusst von der japanischen Badekultur haben wir eine Architektur geschaffen, die alle Sinne anspricht. Durch die Präzision des Handwerks entsteht eine sinnliche Atmosphäre, in der alltägliche Rituale zelebriert werden.

Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch!

Ryoko Iwase stammt aus Tokio. Nach ihrem Diplom 2007 machte sie 2010 ihren Master in Kyoto und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste in Tokio, der Keio University und der Kyoto University (seit 2015). Sie gründete 2013 ein eigenes Büro, nachdem sie den Wettbewerb um die Gestaltung der Uferpromenade von Osaka gewonnen hatte. Sie war eine von fünf jungen Architekturschaffenden, die zur Ausstellung «Under 30 Architects» eingeladen wurden. Ryoko Iwase hat bei Kengo Kuma in Tokio und für EM2N in Zürich gearbeitet.
 
Thomas Hildebrand studierte an der AA in London und an der Fachhochschule Biel. Er lebte und arbeitete in England, Holland, Deutschland und den USA, bevor er 1999 ein eigenes Büro in Zürich eröffnete. Nach einer Lehrtätigkeit an der ETH Zürich unterrichtet er heute als Dozent am Institut Urban Landscape der ZHAW in Winterthur. Er ist Vorstandsmitglied des Architekturforums Zürich und des Zentrums Architektur Zürich (ZAZ).

Unser Autor Ulf Meyer, ein ausgewiesener Experte für japanische Architektur und Kultur, hat ingesamt fünf Interviews mit Gestalter*innen aus der Schweiz und Japan geführt. Diese werden im Abstand von je vier Wochen als Miniserie auf swiss-architects.com veröffentlicht.

Einführung zur Interview-Serie von Ulf Meyer

Yuusuke Karasawa im Gespräch mit Mark Aurel Wyss

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