ETH Forum Wohnungsbau 2018

Juho Nyberg
26. april 2018

Das Kongresshaus ist derzeit eine Grossbaustelle, weshalb sich das ETH Forum Wohnungsbau für mindestens zwei Jahre eine neue Heimat suchen musste. Fündig wurde man – nicht ganz überraschend – bei der ETH selbst. Allerdings nicht auf dem Hönggerberg, wo das Wohnforum seinen Sitz hat, sondern im Audimax des ETH Zentrum. Neben der neuen Örtlichkeit bekam das Forum ja auch eine neue Führung: Mit Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städtebau sowie Christian Schmid, Titularprofessor für Soziologie am Architekturdepartement ETH Zürich und Geograph, Soziologe und Stadtforscher ist die Vielfalt der Kompetenzen gewachsen, was auf neue Ansätze und Blickwinkel hoffen lässt. Dazu wurde die Länge der einzelnen Referate gekürzt, dafür die Zahl der Vortragenden erhöht. In gewohnt souveräner Weise führte Karin Salm als Moderatorin durch den Tag und lud die Referenten pro Schwerpunkt zu einer kurzen Podiumsdiskussion ein, bei der auch Voten aus der Publikum zu hören waren.

Ageing in place
Das Thema der diesjährigen Tagung lautete etwas sperrig «Menschen und ihr Zuhause: Demografische Veränderungen, technologische Innovationen & neue Märkte». Genauer sollte es um das Altern der Gesellschaft und dem weitverbreiteten Wunsch, möglichst lange zu Hause zu wohnen gehen – «Ageing in place» als Schlagwort. Die steigende Lebenserwartung an sich bringt schon vielfältige neue Herausforderungen mit sich. Kombiniert mit dem erwähnten Wunsch, möglichst lange in den gewohnten vier Wänden zu bleiben, steigen die Herausforderungen noch weiter, zumal die angestammten Wohnungen häufig aus einem Lebensabschnitt stammen, in dem sich die üblichen Alterserscheinungen noch nicht zeigten. Aus dieser Situation ist ein breites Feld an Angeboten entstanden: sei es Unterstützung im Sinne einer Haushaltshilfe oder Spitex, seien es technologische Entwicklungen: Software, Apps oder Geräte, die im Alltag und in Notfällen den Menschen zur Seite stehen sollen.

Dr. Corinna Heye, Geschäftsführerin der raumdaten GmbH, hob in ihrem Referat die wichtigsten statistischen Werte hervor, die die Rahmenbedingungen für die aktuelle Wohnmarktsituation mit Blick auf die ältere Bevölkerungsschicht schaffen: Die Haushaltsgrösse ist eine Frage des Alters, mit dem Auszug der Kinder wird die Anzahl der Nutzer bei gleichbleibender Fläche geringer, der Pro-Kopf-Verbrauch steigt folglich. Ein Umzug in Kollektivhaushalte – Alters-WGs oder Alterswohnheime – wird so lange wie möglich aufgeschoben. Die Haltung, in der angestammten Wohnung möglichst lange zu bleiben, schlägt sich auch darin nieder, dass Ältere deutlich häufiger in älteren Bestandesbauten wohnen als Jüngere. Die Hälfte der 65- bis 79-Jährigen und zwei Drittel der über 80-Jährigen wohnt in Gebäuden aus Bauperioden vor 1971. In Neubauten sind ältere Menschen deutlich untervertreten. Zum Problem wird diese Tatsache, da die älteren Bauten häufig nicht altersgerecht ausgebaut sind.

Macht der Gewohnheit
Neben der Macht der Gewohnheit lassen sich noch andere Faktoren ausmachen, die für das «Ageing in place» verantwortlich gemacht werden können: Je länger wir in einer Wohnung wohnen, desto preisgünstiger wird die Wohnung – relativ zum Markt betrachtet. Anreize für einen Wohnungswechsel sind selten, eher birgt ein Umzug viele negative Facetten. Genossenschaften mit einem festgeschriebenen Verhältnis zwischen Zimmer- und Bewohnerzahl haben hier aber ein durchaus brauchbares Instrument zur Hand.

Der Neubaumarkt konzentriert sich auf Wohnungen mit drei und mehr Zimmern. Die modernen, grosszügig geschnittenen Wohnungsgrundrisse neuerer Wohnbauten führen häufig zu höheren Mieten. Und die Vergabe von Mietwohnungen erfolgt oft an den erstbesten Interessenten. Demografische Aspekte, wie etwa eben das Alter werden nur selten gewichtet bei der Auswahl, womit Ältere aussen vor bleiben können.

Als Fazit aus Heyes Vortrag liess sich ziehen, dass der Mensch sich der Macht der Gewohnheit und Bequemlichkeit leicht unterwirft. Wer sein Zuhause gefunden hat, bleibt meist dort, so lange es nur geht. Damit einher geht, dass die angestammte Wohnung behalten wird, auch wenn sie mit der Zeit zu gross wird – man gönnt sich ja sonst nichts. Überhaupt: alt werden nur die anderen, und wenn es doch mich betreffen sollte, dann kann ich mich ja noch später damit beschäftigen.

Alte als wachsender Markt
Doch das ist natürlich nur eine naive Verweigerungshaltung gegenüber dem biologischen Schicksal, das uns alle ereilt: Wir werden alt. Aufgrund der demografischen Entwicklung sind die Alten ein wachsender Markt, und ein attraktiver dazu. Mit der heutigen Fortschrittsgläubigkeit und den wachsenden technischen Möglichkeiten scheinen den Innovationen keine Grenzen gesetzt. Womit wir beim abschliessenden Schwerpunkt der Veranstaltung wären. Doch bevor es mit «neuen Märkten und digitaler Vernetzung: Zukunftsperpektiven für das Wohnen im Alter» losging, durfte Architektin Odile Decq die zweite Keynote (auch das eine Neuerung in diesem Jahr) zum besten geben. Vom Titel «Is old the new young?» blieb ausser der ersten Folie nicht viel übrig. Decq befreite sich kurzerhand und mit französischem Charme aus dem Korsett des Titels, um durchaus beim übergeordneten Thema, nämlich dem Wohnen im Alter, zu bleiben. Mit persönlichen Geschichten eingeleitet, sahen die Zuhörerinnen alsbald Karl Lagerfeld als Beispiel eines im fortgeschrittenen Alter erfolgreichen und arbeitstätigen Menschen. In die selbe Kategorie passen gemäss Odile Decq auch die Architekten im Allgemeinen. Wir arbeiten lange, sind häufig erst spät in der Karriere erfolgreich und bekannt und kosten das dann auch entsprechend aus. Architektonische Lösungen für die Herausforderung des Wohnen im Alter hatte die französische Architektin freilich keine im Gepäck. Schliesslich sei dies für sie eher eine gesellschaftlich-technologische Herausforderung, weniger eine architektonische. Architektur ist für Decq eine Kulturform, sie soll Menschen ein besseres Leben ermöglichen.

Digitale Nachbarschaft
Nach diesem erfrischenden Auftakt fand sich das Publikum allerdings postwendend in der New Economy wieder. Für Michael Benjamin von Allthings AG – ein Spin-off der ETH – liessen sich «vier Handlungsfelder, die geradezu nach digitalen Lösungen rufen» als offensichtliche Herausforderungen ausmachen. Allthings möchte am liebsten alles mit jedem und umgekehrt vernetzen, Daten erheben und Nutzungsprofile ausrechnen. In grossen Wohnkomplexen sollte die Plattform mit zahllosen Apps nicht nur den Energieverbrauch optimieren helfen oder das Handbuch des Backofens online abrufbar machen. Nein, auch ein virtueller Marktplatz, ein E-Concierge und Verabredungen mit Nachbarn, die man sonst nie sieht und mit denen man kaum ein Wort redet, sollten möglich sein. Und die alte Dame vom Ende des Flurs wird über ihr In-house-social-app darüber informiert, wenn der Hipster von gegenüber in der Migros steht, dann kann sie ihn gleich noch bitten, einen halben Liter Milch (halbfett, UHT) mitzubringen. Aus diesem Akt der digital induzierten Nachbarschaftshilfe erwächst dann bei der Übergabe des Molkereiproduktes eine innige Freundschaft, die es sonst wohl nie gegeben hätte.

Überlagert wurde diese kleine Nachbarschaftsgeschichte mit Fachtermini wie «Onboarding- und Nutzungsraten» oder «Nutzungsverhalten» der Bewohner. All diese Daten werden offensichtlich erfasst, sonst könnte darüber ja nicht referiert werden. Eine der eingangs erwähnten offensichtlichen Herausforderungen war gemäss Benjamin übrigens das Problem «kaum Analytics und Insights in Geschehen in Gebäude» zu haben. Für die Optimierung der Lüftung und Beleuchtung mag das ja noch von Bedeutung sein. Bei Wohnbauten drängt sich aber schon der Gedanke nach Orwellscher Überwachung auf.

Immobilien für alte Menschen? - Mumpitz
Noch zugespitzter formulierte Martin Diem von pom+ Consulting. Aus Investorensicht mache es keinen Sinn, Immobilien für ältere Menschen zu bauen. Schliesslich wollten sie ja so lange wie möglich in ihrer angestammten alten Wohnung bleiben und danach geht’s sowieso direkt ins Altersheim, wo sie ja «nur zum Sterben» hingehen. Natürlich kann man das so sehen. Aber ist es nicht möglich, dass einfach die richtigen Konzepte fehlen? Warum nicht eine Wohnform entwickeln, die die Interaktion zwischen den Generationen, Menschen, Bewohnerinnen herausfordert und fördert.

Die Technikbegeisterung Herrn Diems kannte kaum Grenzen, und was gestern noch gut war, ist heute doch schon längst überholt. Wie langweilig wäre es denn, wenn man mit Handys nur telefonieren würde? All die tollen Apps und Features! Ja, auch die Immobilie ist für Diem eine Serviceplattform, wie das iPhone eben. Darüber lassen sich Apps und Dienstleistungen – pardon: Services – vermarkten. So konnte er sich vorstellen, das der Yogalehrer aus dem Quartier exklusiv seine Dienste auf der Plattform anbietet und der Pizzakurier ebenfalls. Finanziert wird das natürlich durch eine Gebühr. Und wer noch so eine alte Immobilie hat, die eben noch nicht digitalisiert ist bis zum Exzess, soll sich dessen erinnern bei der nächsten Renovation. Denn mit der Digitalisierung lässt sich die Rendite noch weiter steigern, wie oben gesehen.

Die Wohnung gibt's dazu
Karin Frick vom Gottlieb Duttweiler Institut bildete den Abschluss des Technologie-Trios. Sie beschäftigt sich mit «Zukunftsthemen, gesellschaftlichem Wandel, Innovation und Veränderung von Menschen und Märkten», so die Ankündigung. Unter der Rubrik «Ein GA fürs Wohnen» entwickelte Frick die These, das Gebäude würde zunehmend vom Wohnen entkoppelt. Vielmehr würde ein umfassendes «Service-Package» – das GA fürs Wohnen eben – dereinst angeboten, die Wohnung gäbe es dann dazu. Denkbar wären auch unterschiedliche Wohnungen für unterschiedliche Bedürfnisse, die sich ja rasend verändern können: heute Penthouse, morgen Blockhaus. Überhaupt liefe die Software der Hardware den Rang ab: volles Büchergestell? Pillepalle, besser ein eBook. Plattensammlung? Ach, bitte. Musik in der Cloud, immer verfügbar und keine vollen Bananenkisten beim Umzug. Fotoalbums? Sie ahnen es schon... Das Handy als Archiv für alle und alles, immer verfügbar. Wo bleibt da der Geruch des Papiers der Bücher? Wo das Wiederentdecken von Eselsohren an Blattecken, an vergessen gegangenen Postkarten, die als Buchzeichen plötzlich aus dem Buch purzeln? Sentimentaler Quatsch?

Für Frick bestimmt. Sie schwamm ganz auf der Welle ihrer beiden Vorredner, ja konnte naht- und mühelos an die durchtechnisierten Szenarien anknüpfen und sah die Services als das Ding, zukunftsträchtig, richtungsweisend. All das hauptsächlich für urbane, gesunde, technikaffine Menschen. Alte, kranke Menschen, die «einen grossen Teil dieser Dienstleistungen nicht nutzen können», sind uninteressant in dieser Hinsicht. Für sie müsste eine Art predictive maintenance entwickelt werden, «mit Autos und Liftanlagen gibt’s das schon». Eine Dienstleistung also, die den Defekt vorausahnt, oder wohl eher mit einem Algorithmus berechnet. Idealerweise wäre ja jemand da, «bevor die Person umfällt». Wirklich? Eine weitere Form der Überwachung in Form der vorauseilenden Fürsorge als Vollkasko-Unterhalt von Menschen im Tausch gegen ihre Privatsphäre. Ein hoher Preis!

Probleme? Löst die Gesellschaft
Die drei Technikapologeten wurden im Anschluss von Karin Salm zum Interview gebeten. Kritische Fragen und Repliken aus dem Publikum liessen nicht auf sich warten. Man war sich nicht recht sicher, ob dieser letzte Teil als Provokation inszeniert worden war. Eine Auflösung blieb indes aus. Die Publikumsfrage nach dem wirklichen Mehrwert der total Digitalisierung wurde nicht befriedigend beantwortet. Ebenso wenig die griffige Frage, ob es sich denn noch lohne, Mensch zu sein in der ganzen digitalisierten Welt. Mensch? Das scheint vielmehr ein Datenlieferant zu sein, schliesslich wüssten die Vermieter nur wenig darüber, wie die Wohnungen genutzt würden, wie Frick bemerkte. Die Datenerhebungen allgemein dienten doch nur dazu, zu erfahren, was die Nutzer wünschten. Dass aber manche Mieter kein Interesse daran haben, ihr «Nutzungsprofil» in Gänze offenzulegen und dass sie sich vielleicht in erster Linie einfach Privatsphäre und Ruhe in ihrer Wohnung wünschen, wurde auch nur als Möglichkeit vollständig ignoriert. Das Problem der Datenerhebung und der Algorithmen zur Auswertung derselben immerhin wurde als solches erkannt. Doch die Verantwortung zur Lösung des Problems liegt natürlich – bei der Gesellschaft und der Politik, wie Martin Diem meinte.

Synthese
Die Aufgabe der Synthese des Forums blieb diesmal Christian Schmid überlassen. In seinem wuchtig und engagiert vorgetragenen Abschluss hielt Schmid zunächst fest, dass es immer 1.) anders kommt und 2.) als man denkt. Er erinnerte an die Einführung der «Telearbeit» Ende der 1970er-Jahre, als über die zukünftige Entwicklung der Arbeitswelt die wildesten Spekulationen entstanden: Arbeiten im Schächental, Entvölkerung und Obsolenz der Städte. Nun, die Innenstädte haben sich erhalten und sind begehrte Wohnlagen. Im Schächental lässt es sich heutzutage zwar arbeiten, aber es sind beileibe nicht alle Arbeitskräfte in die entlegensten Winkel der Schweiz gezogen.

Als Stadtforscher kam Schmid darauf auf sein Kernthema zu sprechen: die Urbanität. Für das Leben im Alter sieht Schmid Vorteile: kurze Wege, hohe soziale Dichte. Allerdings stelle sich die Frage nach der Durchmischung? Wie kann eine solche auf gutem Niveau erreicht werden?

Einen wichtigen Faktor der Urbanität und Menschen stellte für Schmid die Trägheit dar: die gebaute Umwelt ist – gerade in der Schweiz – äusserst träge, gebaut wird «für die Ewigkeit». Ebenso träge sind wir Menschen: eine liebgewonnene, vertraute Umgebung zu verlassen kommt für uns kaum in Frage. Zu den prägenden Faktoren zählen neben dem Gebauten auch Gerüche und Geräusche. So ist jedes urbane Gebiet spezifisch, weswegen allgemeine best-practice-Ansätze nur beschränkt funktionieren. Schmid plädiert für das Beobachten der Menschen in ihrer Umgebung und sieht die Urbanisierung als einen Suchprozess mit Innovationen und Entdeckungen. Auf die Ergebnisse sind wir gespannt und freuen uns schon deren Präsentation in einem Jahr.

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