Unter Männern: Astra Zarina in Berlin

Eduard Kögel
7. juli 2021
Astra Zarina posiert mit dem Modell ihres zweiten Entwurfs für eines der wichtigsten und grössten Baufelder des Märkischen Viertels. (Foto mit Erlaubnis des Civita Institute; alle Rechte vorbehalten)

Die Administration unter Bürgermeister Willy Brandt (1913–1992) wollte nach dem Bau der Mauer im Jahr 1961 mit dem Märkischen Viertel direkt an der Grenze zu Ostberlin eine neue Grosssiedlung errichten und ein Zeichen setzen. Senatsbaudirektor Werner Düttmann (1921–1983) und die damals jungen Architekten Georg Heinrichs (1926–2020) und Hans Christian Müller (1921–2010) legten eine avantgardistische städtebauliche Figur mit fast 20 Baufeldern vor. Die drei Planer wählten für den sozialen Wohnungsbau Berliner Architekten aus, die zu jung waren, um bereits im «Dritten Reich» gebaut zu haben. Dazu lud man die beiden Schweizer Karl Fleig und Ernst Gisel ein, aus Frankreich kam René Gagès (1921–2008), aus den Vereinigten Staaten Shadrach Woods (1923–1973). Als einzige Frau ergänzte die in Rom lebende Amerikanerin Astra Zarina (1929–2008) das Team. Ihre Familie war in den Kriegswirren aus Riga nach Deutschland geflohen, wo Astra zwischen 1947 und 1949 bei Egon Eiermann in Karlsruhe studierte. Nach dem Umzug in die USA schloss sie 1953 an der University of Seattle ein Bachelor- und 1955 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston schliesslich ein Masterstudium ab, jeweils mit Auszeichnung. Bis 1960 arbeitete sie bei Minoru Yamasaki (1912–1986) in Detroit und erhielt dann als erste Frau überhaupt den Rome Prize der American Academy sowie ein Fulbright-Stipendium. Der charismatische Werner Düttmann traf Astra Zarina vermutlich auf einer Schiffspassage über den Atlantik und lud sie ein, am Märkischen Viertel mitzuarbeiten, wo fast 16000 Wohnungen gebaut werden sollten.

Der erste Entwurf von Astra Zarina und Douglas Phillip Haner für das Märkische Viertel (Foto mit Erlaubnis des Civita Institute; alle Rechte vorbehalten)
Modell des zweiten Entwurfs (Modellfoto mit Erlaubnis des Civita Institute; alle Rechte vorbehalten)
Neue Ideen für den sozialen Wohnungsbau?

Mit 1148 Wohneinheiten übertrug man der 34-jährigen Architektin eines der grössten Baufelder. Sie bearbeitete das Projekt in Rom gemeinsam mit ihrem Ehemann Douglas Phillip Haner. Der erste Entwurf zeigt noch eine organische, mehrgeschossige Baugruppe, die zu den umgebenden Strassen mit einer eingeschossigen Ladenzeile geschlossen ist. Die originelle Raumfigur fanden die drei Planer Düttmann, Heinrichs und Müller unpassend. Zarina zeichnete 1968 einen Comic, in dem sie das Trio als Heilige drei Könige darstellte, die ihr weismachen wollen, ein reines Wohngebiet brauche weder Läden noch Cafés oder Geschäfte. Der zweite Entwurf entstand 1966 noch in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann, von dem sie sich aber bald darauf trennte. Auch hier bemängelten die «Heiligen drei Könige» das Ergebnis und mahnten eine erneute Überarbeitung an. Um sicherzustellen, dass nun das Ergebnis den Erwartungen entsprach, stellte man ihr die beiden Berliner Architekten Siegfried Hoffie und Erwin Eickhoff aus Heinrichs’ Büro zur Seite. Dazu kam eine Firma für Fertigteile, die neu radikale Rahmenbedingungen vorgab. Die junge Architektin zeichnete einen zweiten Comic. Er zeigt einen Fleischwolf, durch den sie nun die Fertigteile dreht – die beiden Berliner Kollegen helfen ihr. Die «Heiligen drei Könige» halfen sodann, wie der Comic weiter zeigt, mit etwas gelber Farbe nach und fertig war die Wohnanlage. Dazu lässt Zarina einen der beiden Kontaktarchitekten sagen: «Weisst du, du bist nicht sehr begabt dafür …» Offen bleibt, worauf sich das bezieht: Die notwendige Diplomatie, um sich in einem ignorant-technokratischen Umfeld durchzusetzen, oder den Willen, sich auf die ökonomische Optimierung einzulassen, auf deren Scheiterhaufen jegliche räumliche und architektonische Qualität geopfert wurde.

Differenzierte Gestaltung der Wohnanlage im zweiten Entwurf (Foto mit Erlaubnis des Civita Institute; alle Rechte vorbehalten)
Aus dem zweiten Comic von Astra Zarina (Foto mit Erlaubnis des Civita Institute; alle Rechte vorbehalten)
Das Verschwinden der Architektin

Doch damit nicht genug: 1972 publizierte der Senat für Bau- und Wohnungswesen die offizielle Plandokumentation für das Märkische Viertel. Bereits in der Übersicht zum Bauvorhaben, wo alle Architekten gelistet sind, fehlt Astras Name, ebenso beim ersten städtebaulichen Plan von 1965. Stattdessen steht dort «HANER», der Name ihres Mannes. Bei keinem anderen Büro mit mehreren Architekten kommt das vor. Im Plankopf des Architekturentwurfs steht eindeutig «Astra Zarina, Douglas Phillip Haner Architects». Bei den städtebaulichen Plänen von Dezember 1966 steht erneut nur «HANER» und Zarina bleibt unterschlagen. Bei der Übersicht zur Grundrissdokumentation taucht dann zum ersten Mal «A. Zarina» auf. Allerdings folgt für das ausgeführte Projekt gleichberechtigt «Eickhoff, Hoffie, Zarina», in alphabetischer Reihenfolge. In einer weiteren Broschüre des Senats (1975) werden alle Architekten und ihre Wohnbauprojekte ausführlich gewürdigt, die ausländischen Architekten sogar hervorgehoben, nur Astra Zarina bleibt wieder unbenannt. Das sind nur einige Beispiele aus offiziellen Dokumentationen, denen man noch viele weitere beifügen könnte.

Einige Baublöcke in den Originalfarben aus den 1970er-Jahren (Foto: Heinrich Kuhn, Bildnutzung mit freundlicher Genehmigung von Sabine Krueger)

Die Auslassung ist symptomatisch und wirft Fragen auf. Die in Rom lebende amerikanische Architektin hatte zwei Jahre bei Egon Eiermann studiert, war also mit dem deutschen Diskurs vertraut. Es gab keine sprachlichen Barrieren. Wieso verschwindet sie dennoch in der Dokumentation und in der Rezeption? Wieso wurden ihre guten Ideen zum Stadtraum und zu den Grundrissen nicht offen diskutiert? Neben der sicherlich vorhandenen Ignoranz gegenüber Architektinnen mag auch der sagenhaft schlechte Ruf der Anlage – noch vor der Fertigstellung des Märkischen Viertels wurde es zum Synonym für das Versagen der Moderne – mit dazu beigetragen haben, nicht weiter darüber zu diskutieren. Aber damit lässt sich nicht erklären, wieso ihr Name so oft ganz verschwand. Wer sich heute aus der Perspektive der Gender Studies mit der Architektur befasst, wird alsbald feststellen, dass hier beileibe kein Einzelfall vorliegt. Astra selbst nahm es mit Humor und schrieb in einem späteren Bewerbungsschreiben: «The project was delivered on time and constructed within the budget. (The architect Astra Zarina survived but became neither rich nor famous.)»

Astra Zarina fokussierte sich in den folgenden Jahren auf den Erhalt historischer Bauten in Italien und auf die Architekturausbildung. Zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Tony Costa Heywood arbeitete sie bis zu ihrem Tod 2008 eng mit dem in Seattle beheimateten Northwest Institute for Architecture and Urban Studies in Italy (NIAUSI) zusammen, um für das Bergdorf Civita di Bagnoregio eine Zukunftsperspektive zu entwickeln.

Die energetische Sanierung brachte eine neue Farbigkeit, konnte aber nicht zur Lösung der städtebaulichen Probleme beitragen. (Foto: Eduard Kögel, 2021)

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