Gemeinsames Denken als Gestaltungsprinzip von Architektur

Susanna Koeberle
28. März 2024
Tatiana Bilbao in ihrem Büro in Mexiko-Stadt (Foto: © Ana Hop)

Für Tatiana Bilbao ist Architektur eine Form von Care-Arbeit: «Architektur ist eine primäre Form der Fürsorge (care) dem Körper gegenüber», sagt sie gleich zu Beginn der Führung durch die Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich. Sie macht mit diesem Statement zugleich klar, dass sie sich bewusst absetzen möchte von einem Narrativ, das Architektur als objekthafte Repräsentation von Macht und Geld versteht. Was das konkret für ihre Architektur heisst, können Besucher*innen nachvollziehen, wenn sie durch die Ausstellung «Tatiana Bilbao Estudio. Architektur für die Gemeinschaft» wandeln. Schon der Titel der Ausstellung indiziert: Es geht nicht primär um Architekturobjekte, sondern um etwas Grösseres, um Gemeinschaft eben. 

Diese Idee kommt auch in der Szenografie zum Tragen; sie besteht aus einer dreidimensionalen, immersiven Collage. Der Besuch der Schau wird dadurch zu einer körperlichen Erfahrung, die keineswegs ein Ersatz für die physische Begegnung mit den Projekten ist. Vielmehr bietet die Ausstellung eine etwas andere Art der Darstellung und Vermittlung von Architektur und der damit verbundenen Prozesse. Das Publikum schreitet im mittleren Raumsegment durch aufgehängte Fragmente aus Holz, die stellvertretend für die sieben näher dokumentierten Projekte stehen; an der rechten Wand sind Pläne und Texte angebracht, und auf der linken Seite findet man übereinander gelagerte grossformatige Fotografien. In zwei seitlichen Nischenräumen werden ein noch unrealisiertes Kloster sowie die Materialrecherchen des Büros vorgestellt. Und am hinteren Ende des Saals sind mehrere kleinere Collagen ausgestellt, eine Technik, mit der das Studio auch beim täglichen Entwerfen und Entwickeln arbeitet. 

Tatiana Bilbao Studio arbeitet mit analogen Hilfsmitteln wie der Collage, hier zu sehen am Beispiel des Forschungszentrums der Sea of Cortez (2023) in Mazatlán im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa. (Foto: © Juan Manuel McGrath)

Die installativ konzipierte Schau ist ein Exponat für sich, das zugleich das «ganze» Werk des Studios repräsentiert. Doch das «Ganze» ist in der Arbeit von Bilbao nicht als totalitäre oder abgeschlossene Figur zu verstehen. Bauwerke haben in ihrem Verständnis von Architektur etwas Offenes und Transitorisches. Wenn sogar Architektur nicht in Stein gemeisselt ist, dann muss man davon ausgehen, dass wir es hier mit etwas Aussergewöhnlichem zu tun haben. Die Relevanz und das grosse Spektrum der Arbeit von Tatiana Bilbao Estudio interessierten auch Karin Gimmi, die Kuratorin der Ausstellung. Anschaulich wird die Denkweise Bilbaos auch, wenn die mexikanische Architektin über die Projekte und das Ethos ihres 2004 gegründeten Büros spricht. 

Dabei zeigt sich, dass gerade das erste Projekt der Ausstellung, der Botanische Garten von Culiacán, in mehrfacher Hinsicht bedeutsam ist. Es war nicht nur eines der ersten Projekte des frisch gegründeten Büros, es ist zudem eines, an dem Tatiana Bilbao Estudio (TBE) immer noch arbeitet. Trotz der Grösse des Areals seien die Interventionen klein, erklärt die Architektin. Ohne seinen Charakter gross zu verändern, schaffen die Eingriffe einen öffentlich zugänglichen, friedlichen Ort der sozialen Interaktion – dies notabene in einer Stadt, die berüchtigt ist für ihre hohe Kriminalität. «Das Projekt hat sich parallel zu unserem Werdegang als Büro Schritt für Schritt weiterentwickelt», sagt Tatiana Bilbao. Das stete Beobachten seiner Nutzung hat den Garten gleichsam zu einem Lehrmeister gemacht; zugleich ist der Ort Spiegelbild der Arbeit der Architektin. 

Tatiana Bilbao Estudio, Botanischer Garten, Culiacán, Sinaloa, Mexiko, 2023 (Foto: © Onnis Luque)

Das Transformative und das Adaptive sind zwei wichtige Aspekte in Bilbaos Vorstellung von Architektur. Sie vergleicht Wohnbauten gerne mit Kleidungsstücken: persönlich zum einen und leicht veränderbar zum anderen. Ein Projekt, das paradigmatisch für diese Arbeitsweise steht, ist ein sozialer Wohnungsbau in Acuña. Weil ein Tornado 2015 hunderte Häuser zerstörte, musste der Wiederaufbau schnell gehen. TBE entwarf im Auftrag eines nationalen Wohnungsbauprograms ein modulares System, das durch die Bewohner*innen selbst gebaut und erweitert werden kann. Solche Bauten können je nach Kontext und Bedürfnissen einfach angepasst werden. Diese niederschwellige Designstrategie ist ein zentrales Merkmal vieler Projekte von TBE. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht sorgfältig und bis ins Detail geplant werden. Ganz im Gegenteil: Die Materialität von Architektur muss für Bilbao stets die Grundidee des Entwurfs widerspiegeln. Die ausgestellten Materialmuster zeugen von der intensiven Recherche des Büros. Der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen bedeutet für die Architektin auch, sich nicht durch zeitgeistige Narrative beirren zu lassen, sondern stets das Gesamtbild im Auge zu behalten. 

Tatiana Bilbao Estudio, Wohnbauprojekt in Acuña, Coahuila, Mexiko, 2016 (Foto: © Iwan Baan)

Das jüngste Projekt in der Ausstellung ist ein kürzlich fertiggestelltes Forschungszentrum und Aquarium, das sich am Mar de Cortés – auch Golf von Kalifornien genannt – befindet. Die Bucht ist bekannt für die grosse Biodiversität der marinen Flora und Fauna. Zunächst wurde TBE angefragt, dort einen Park zu entwerfen. Später bekam das Studio den Auftrag, auch das Aquarium zu bauen. Wobei sich für Bilbao damit eine grundlegende Frage aufdrängte: Wieso sollte man genau dort ein Aquarium erstellen, wo sich doch um die Ecke das schönste natürliche Habitat von marinen Lebewesen befindet? Sie wollte herausfinden, welche zusätzliche Rolle eine solche Institution spielen könnte, abgesehen von einer rein touristischen Funktion. Um diese komplexe Aufgabe neu zu denken, suchte sie nach Partner*innen und stiess dabei auf die Naturschutz-Organisation Ocean Wise. Es ging darum, den Menschen, also die Nutzer*innen eines Baus, als Teil des bestehenden Ökosystems zu verstehen. 

Tatiana Bilbao Estudio, Forschungszentrum der Sea of Cortez, Mazatlán, Sinaloa, Mexiko, Modell, 2019 (Foto: © Rodrigo Chapa)

Dieses Beispiel verdeutlicht ein weiteres Charakteristikum der Tätigkeit von TBE: Nämlich mit Architektur Geschichten zu erzählen und dadurch neue Perspektiven zu eröffnen. Aber wie kann das gelingen? Die amerikanische Philosophin Donna Haraway würde Bilbaos Konzept wohl als «speculative fabulation» bezeichnen. Denn das Team knüpfte rund um den Entwurf eine Geschichte und stellte sich zu diesem Zweck eine zukünftige Perspektive auf den Bau vor. Was wäre, wenn der Bau aus dem Jahr 2023 rund zweihundert Jahre später entdeckt worden wäre und man nicht genau hätte sagen können, wozu er früher gedient hat? Denn nach einer Überflutung und dem Rückzug des Wassers hätte sich die Natur den Bau wieder zu eigen gemacht. Die transdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft spekulierte, welche Lebewesen bis dann überlebt haben könnten. Am Anfang des Entwurfsprozesses stand gleichsam die Idee der Ruine. Mit anderen Worten: Die Architektur gründet auf einer umgekehrten Archäologie. Das Resultat ist ein Bauwerk, das keine klar definierten Räume besitzt. «Das Kreieren eines Narrativs half uns, den Bau und seine zeitliche Dimension zu imaginieren. Architektur beinhaltet für mich einen sich stetig wandelnden Prozess, nämlich das Leben selbst», sagt Bilbao. Genau deswegen sollte Architektur für sie nichts Abgeschlossenes sein. Die Ausstellung im Museum für Gestaltung ist eine gelungene und anschauliche Sichtbarmachung dieser Überzeugung.

Andere Artikel in dieser Kategorie