Oliviero Toscani, Meister der Provokation

Nadia Bendinelli
2. Mai 2024
Oliviero Toscani, «Bosnienkrieg», Kampagne für United Colors of Benetton, 1994 (© Oliviero Toscani)

Aufmerksamkeit geniesst, wer am lautesten schreit. Vielleicht. Aber auch das Gegenteil ist wahr: Die Macht der Fotografie liegt gerade in ihrer Stille. Sie liefert uns keine eindeutigen Antworten, sie konfrontiert uns mit Dingen, sie lässt uns allein. Eine Meinung müssen wir uns selbst bilden. Wir müssen entscheiden, auf welcher Seite wir stehen. Das gilt ganz besonders, setzen wir uns mit Oliviero Toscanis Arbeit auseinander. Der «Meister der Provokation» versteht es, die Öffentlichkeit aufzuwühlen. Aber welche Intention bewegt ihn? Geht er mit seinen provokativen Arbeiten zu weit oder sind sie ein probates Mittel, um effektiv zu kommunizieren?

Bilder, die niemanden kaltlassen

Das Museum für Gestaltung bietet nun die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zum Werk Toscanis zu bilden. Die grosse Retrospektive zeigt berühmte, aber auch weniger bekannte Bilder des italienischen Fotografen, der seine Karriere 1961 ausgerechnet mit einer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Zürich begann, der heutigen ZHdK, zu der das Museum für Gestaltung gehört.

Die Ausstellung besteht aus einem zentralen Raum und neun seitlich angeordneten kabinettartigen Sektionen. Von der Decke hängen auf unterschiedlicher Höhe grossformatige Fotografien, die einen starken räumlichen Effekt erzeugen. Eine schöne Überraschung, die ausserdem ermöglicht, alle Bilder zu vergleichen oder als einer Art Organismus zu verstehen. Die erwähnten Sektionen sind jeweils einem Thema gewidmet. Gemeinsam ist den hier gezeigten Fotografien die immer gleiche Grundidee: Aufmerksamkeit erzwingen. Die Bilder, die grossteils für Werbezwecke entstanden, bilden alles ab, wovor bis heute gerne die Augen verschlossen werden: AIDS, die Todesstrafe, Magersucht, Rassismus und die Diversität der Menschen. Über die Jahre wurde viel darüber diskutiert, ob Toscanis Arbeit, insbesondere jene für das Modelabel Benetton, die Grenzen des Zeigbaren überschreitet. Dabei war die Empörung oft grösser als das Verständnis.

Am häufigsten werfen seine Kritiker Toscani vor, man dürfe das Leid der Menschen nicht instrumentalisieren, um Kleidung zu verkaufen. Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt jedoch, dass es vielleicht zum Wesen der Kunst gehört, politische Inhalte zu vermitteln und Sozialkritik zu üben – und damit zuweilen stark zu polarisieren: Pablo Picasso hat 1937 mit seinem weltberühmten Gemälde «Guernica» den Schrecken des Spanischen Bürgerkriegs auf die Leinwand gebannt und damit politisch klar Stellung bezogen. Zuvor erhobt der Berliner Maler und Grafiker George Grosz in seiner Kunst heftige Vorwürfe gegen die deutsche Bürgerlichkeit, die Kirche, die Politik und das Militär. Nicht nur einzelne Protagonisten, sondern sogar ganze Bewegungen innerhalb der Kunst wie etwa die Dadaisten engagierten sich, um Missstände anzuprangern und neue Ideale zu vermitteln. Bis heute ist die Meinung weit verbreitet, Kunst müsse politisch sein, ansonsten bleibe sie bloss eine ästhetische, aber inhaltsleere Hülle. 

Oliviero Toscani polarisiert. Nicht nur mit Fotografien: Seine Art zu sprechen und sein Auftreten haben dieselbe Wirkung wie seine Kunst. Radikal, scharf und unmissverständlich äussert er seine Meinung. Zur Ausstellung im Museum für Gestaltung gehört deswegen auch ein kleiner Kinoraum, in dem eine interessante Dokumentation zu sehen ist, die die Person – oder die Figur – Toscani greifbar macht. Nicht nur in der Ausstellung, sondern auch online finden sich zahlreiche Interviews mit ihm. Darin vertritt er immer wieder die Meinung, man könne auch mit etwas Intelligentem Profit machen. Warum also, fragt er provokativ, immer nur «dumme» Inhalte in der Werbung zeigen? Und hier liegt der grosse Streitpunkt: Natürlich verdient Toscani an seiner Arbeit und trug wesentlich zum Gewinn seiner Kunden bei. Doch ist seine Fotografie deswegen automatisch verwerflich?

Oliviero Toscani, «No Anorexia», Kampagne gegen die Magersucht, 2007 (© Oliviero Toscani)
«No Anorexia» – Kampagne gegen die Magersucht

2007 schlug die Kampagne des Modelabels No-l-ita mit der stark magersüchtigen Isabelle Caro hohe Wellen: Weltweit wurde sie in Zeitungen, Talkshows und den Hauptnachrichten diskutiert. Kunsthistoriker, Psychologen und Soziologen wurden nach ihrer Meinung gefragt und zahlreiche Passanten auf der Strasse interviewt. Jeder sollte – mehr oder weniger fachkundig – erklären, warum die Kampagne ein Problem, genial oder notwendig sei. 

Die Werbung wird in aller Regel nicht benutzt, um unbequeme Wahrheiten zur Sprache zu bringen. Vielmehr besteht sie zumeist aus bizarren, teils auch durchaus komischen Versprechungen: Mit diesem Shampoo bekommst du endlich deine Traumfrisur – wenn nicht sogar deinen Traumprinzen. Diese Creme lässt dich jünger aussehen, und das Deo macht dich zum Frauenschwarm. Etwas anderes erscheint den Marketingabteilungen nicht erfolgversprechend: Der Realitäten ins Auge zu schauen, daran haben die wenigsten Interesse. Die meisten Menschen wollen nicht beim Schlendern durch die Stadt plötzlich mit Tabuthemen wie der Anorexie als Gigantografien konfrontiert werden. Geschieht dies doch, trifft es sie unerwartet und ruft naturgemäss emotionale Reaktionen hervor. Hätte Toscani seine Bilder von Isabelle Caro in einem Dokumentarfilm oder einer Reportage über die Magersucht gezeigt, sie hätten wohl kaum eine derartige Wirkung erzielt.

Toscani nutzt den grossen Impact der Werbung und verkehrt ihre Funktion: Wo normalerweise Oberflächliches zu sehen ist, erscheint unerwartet Sozialkritik. Mit diesem Détournement und der einkalkulierten Schockwirkung bewegt er sich in der Tradition der politischen Kunst. Die Werbebranche kritisiert er immer wieder scharf. In einem Interview mit dem Tessiner Sender RSI sagte er zum Beispiel 2017: «Da quando esiste la parola marketing esiste la crisi dell’arte. Gli uomini marketing – anche le donne – sono la rovina della società. Loro si vendono per noccioline, non hanno un punto di vista vero, umano: a loro non interessa l’umanità. Appartengono al mondo dell’economia, dello sfruttamento, del consumo. Io credo che l’essere umano sia interessato a cose più interessanti.» (Deutsch: Seit es das Wort Marketing gibt, gibt es eine Krise der Kunst. Die Marketing-Männer – auch die -Frauen – sind der Ruin der Gesellschaft. Sie verkaufen sich für Peanuts, sie haben keinen wirklichen, menschlichen Standpunkt: Sie sind nicht an der Menschheit interessiert. Sie gehören zur Welt der Wirtschaft, der Ausbeutung, des Verbrauchers. Ich glaube, dass die Menschen an interessanteren Dingen interessiert sind.)

Es bleiben dennoch einige Fragen offen. Probleme müssen angesprochen und gesehen werden, um sie zu lösen oder es zumindest zu versuchen. Interessant wäre zu wissen, was die langfristigen Konsequenzen sind, nachdem ein J’accuse prominent platziert wurde und alle darüber gestritten haben. Kann die Provokation wirklich etwas bewegen oder kommt sie am Ende doch nur dem Portmonee der Beteiligten zugute? Auch nicht zu vergessen: Selbst Isabelle Caro wurde erst mit der Kampagne berühmt und erhielt Aufmerksamkeit, die sie nutzen konnte, um vor ihrer Krankheit zu warnen. Dennoch ist es für sich genommen nicht falsch, eine Botschaft dort zu platzieren, wo sie auch die grösste Wirkung erzielt.

Oliviero Toscani, «White, Black, Yellow (Herz)», Kampagne für United Colors of Benetton, 1996 (© Oliviero Toscani)
Oliviero Toscani, «Zum Tode verurteilt, Porträt von Jerome Mallett», Kampagne für United Colors of Benetton, 2000 (© Oliviero Toscani)
Für etwas einstehen

18 Jahre lang entwickelte Oliviero Toscani Werbekampagnen für Benetton, ehe die Zusammenarbeit im Streit endete. Die Folgen der im Jahr 2000 lancierte Kampagne gegen die Todesstrafe zeigten deutlich, wie sich das Modelabel und der Fotograf in ihrer Haltung unterschieden. Toscani besuchte neun US-amerikanische Strafanstalten und traf dort zum Tode verurteilte Häftlinge. Ein Journalist, der ihn begleitete, führte Interviews für Videoaufnahmen. Fotografien, Videos und Interviewtexte waren später auch in Ausstellungen zu sehen, die mit Menschenrechtsorganisationen kuratiert wurden. Menschen zu töten, sei immer falsch, so die Botschaft.

Auch diese Kampagne löste wie viele zuvor heftige Reaktionen aus. Opfervertreter fanden, sie unterstütze zu Recht verurteilte Verbrecher. Unter massivem Druck entschied die amerikanische Kaufhauskette Sears, alle Benetton-Filialen aus ihren Gebäuden zu verbannen. Angesichts der wirtschaftlichen Bedrohung bröckelten die Prinzipien des Patrons Luciano Benetton, der sich öffentlich für die Kampagne entschuldigte. Oliviero Toscani hingegen blieb bei seiner Meinung. Die Zusammenarbeit der beiden hatte von da an keine Basis mehr.

Der Besuch im Museum für Gestaltung ist auf jeden Fall eine wertvolle Erfahrung, unabhängig davon, wie man zu diesen Geschichten steht und wie man Toscanis Arbeit moralisch einordnet. Denn die Bilder des Italieners sind nicht nur hochästhetisch, handwerklich perfekt und extrem provokativ, sie zwingen uns vor allem zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen, die wir vielleicht gerne ignorieren würden. Sie zwingen uns, eine Haltung zu entwickeln. Und ja, sie zwingen uns auch darüber nachzudenken, wie und in welchem Umfeld Oliviero Toscani seine Gesellschaftskritik äussert. Das macht ihren Wert aus. 

 

Die erste umfassende Retrospektive zum Werk Oliviero Toscanis ist noch bis zum 15. September dieses Jahres im Museum für Gestaltung (Ausstellungstrasse 60, 8005 Zürich) zu sehen. Ausgestellt sind über 500 Bilder, darunter auch private Arbeiten. Einige Filmdokumente ermöglichen eine weitere Vertiefung. Schade, wurde keine begleitende Publikation herausgebracht.

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