Planung wirkt – oder: Wie eine Gemeinde ihr Schicksal selbst in die Hand nahm

Elias Baumgarten
6. Juli 2023
Foto: Elias Baumgarten

1985 schloss die Wagi, Schlierens grosse Waggon- und Aufzügefabrik, ihre Tore – für viele Schlieremerinnen und Schlieremer der Tiefpunkt einer schmerzlichen Phase der Deindustrialisierung, ein «traumatisches Erlebnis», wie sich Markus Bärtschiger erinnert. Seit 2017 ist er Stadtpräsident von Schlieren. Seit den 1980er-Jahren hat er eine tiefgreifende Veränderung seiner Heimatstadt erlebt: Die Einwohnerzahl schnellte bis ins Jahr 2022 auf 20'000 Menschen nach oben. Alte Industriehallen verschwanden, zahllose Neubauten schossen aus dem Boden. Neu verbindet die Tramlinie 2 Schlieren mit verschiedenen Zürcher Quartieren. Plötzlich möchten Menschen in Schlieren wohnen, das noch bis vor kurzem als Zürichs Müllhalde galt, an jenem Ort also, an den man einst lästige Industrieanlagen wie das Gaswerk verbannte. Und sogar Architektinnen und Architekten machen sich auf nach Schlieren, um die Neubauten zu sehen und die planerischen Leistungen der Stadt zu würdigen. 

Das dynamische Wachstum, das Schlieren in den letzten Dekaden erlebt hat, fand auch in anderen Agglomerationsgemeinden des Schweizer Mittellandes statt. Doch es gab einen wesentlichen Unterschied, wie der Architekt und Publizist Caspar Schärer feststellt: «Schlieren war planerisch bereit, als der Bauboom losging.» Tatsächlich hatte das Brugger Planungsbüro Metron mit «STEK I» bereits 2005 ein Stadtentwicklungskonzept für die Zürcher Vorstadt erarbeitet. Es umfasste eine übergreifende räumliche Vorstellung der künftigen Entwicklung, Strategien für Themenfelder wie Wohnen und Verkehr sowie einen konkreten Massnahmenkatalog.

STEK I wurde schliesslich auch zur Grundlage für ein besonderes Fotoprojekt von Meret Wandeler und Ulrich Görlich, das in Zusammenarbeit mit dem Büro Metron und der Stadt Schlieren durchgeführt wurde: Ab 2005 wurden insgesamt 69 Standorte in Schlieren alle zwei Jahre unter identischen Bedingungen fotografiert. Perspektiven und Bildausschnitte blieben unverändert, Menschen und Tiere wurde nicht abgebildet. Mit dieser aufwendigen Langzeitstudie sollte untersucht werden, wie die rege Bautätigkeit und die urbane Entwicklung den Charakter der Vorortsgemeinde verändern.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten

Jetzt liegen die Bilder mit «Stadtwerdung im Zeitraffer» in Buchform vor. Die von Elektrosmog aus Zürich wunderbar gestaltete Publikation umfasst zwei Bände, die in einem Schuber geliefert werden: Ein querformatiges Buch, der Archiv-Band, versammelt die Serien von jeweils acht Aufnahmen, die an den besagten 69 Standorten gemacht wurden. Beim ersten Durchblättern ertappt man sich dabei, mit fast kindlicher Freude die Unterschiede auf den Fotografien zu suchen. Doch betrachtet man die Bilder genauer, macht man bemerkenswerte Entdeckungen, die viel über Schlierens planerische Leistungen verraten: Manche Orte haben sich völlig verändert wie das Zentrum an der Zürcherstrasse. Standen hier 2005 noch einige ländlich anmutende Bauten neben einem Grünraum mit einer alten Rotbuche, befindet sich dort nunmehr eine Station der Limmattalbahn, die mit ihrem roten Dach identitätsstiftend wirkt. Die Rotbuche wurde aufwendig versetzt. Und das Färbi-Areal war 2005 eine Brache mit wild wachsenden Pflanzen. Bis 2015 ist dort ein neues Quartier mit einladendem Park entstanden. Doch andere Orte, vor allem an den Siedlungsrändern, veränderten sich kaum: An einem Feldweg zwischen Steinackerstrasse und Alter Zürichweg blickte man 2005 auf Felder und einen Bauernhof. Dasselbe Bild zeigt sich auch noch Jahre später – lediglich wurde der Hof um zwei Silotürme und einen Stall ergänzt. Kurzum, in Schlieren scheint die Nutzung von Baulandreserven innerhalb der bestehenden Siedlungsstrukturen bisher gut gelungen zu sein.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten

Im zweiten Buch, dem 480 Seiten starken Essay-Band, findet man Fotoserien, die sich mit Details wie Hauseingängen und Ladenflächen befassen und so die Veränderung des Stadtraums darstellen. Ausserdem liest man hier Beiträge verschiedener Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit dem Fotoprojekt auseinandersetzen und es einordnen. Besonders erhellend ist dabei der Beitrag von Mitherausgeber Caspar Schärer, der sich mit der Entwicklung Schlierens auseinandersetzt und die Hintergründe minuziös offenlegt. In seinem mit einer bewundernswerten sprachlichen Finesse geschriebenen Text öffnet er auch den Blick für Herausforderungen, die in Schlieren und anderen Agglomerationsgemeinden künftig zu meistern sind: den Schutz der Biodiversität nämlich, eine adäquate Reaktion auf die Klimakrise und den Einbezug der Landwirtschaft in die Raumplanung.

Besonders gefallen schliesslich auch die Gesprächsrunden, in denen Schlieremerinnen und Schlieremer zu Wort kommen. Man erhält interessante Einblicke, wie sie selbst ihre Stadt und deren Entwicklung erleben und bewerten. «Im Moment ist alles sehr aufgeräumt und ich vermisse die informellen Freiräume, wie wir sie in meiner Jugend hatten», meint etwa Michael Koger, der Fachstellenleiter Jugend bei der Stadt. Dennoch glaubt er, dass gerade junge Menschen sich mittlerweile stark mit Schlieren identifizieren. Der älteren Generation falle das aufgrund der schnellen Veränderung schwerer, ihm selbst fehle es noch an kulturellen Angeboten. Und Stadtpräsident Markus Bärtschiger? Der sagt, die Alteingesessenen hätten noch immer einen starken Zusammenhalt wie in einem Dorf. Man kenne sich ewig, vertraue einander. Doch für die vielen Neuzugezogenen sei es noch schwer, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Wahrscheinlich besteht nach der räumlich vielfach gelungenen Veränderung Schlierens die nächste Herausforderung in der sozialen Stadtentwicklung.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten
Stadtwerdung im Zeitraffer

Stadtwerdung im Zeitraffer
Meret Wandeler, Ulrich Görlich und Caspar Schärer (Hrsg.)

225 x 300 Millimeter
632 Seiten
1166 Illustrationen
Broschiert
ISBN 978-3-03942-139-8
Scheidegger & Spiess
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