Wie Kunst einen gemeinsamen Grund schaffen kann

Susanna Koeberle
29. Juni 2023
Die Installation «HUM IV» von Dunja Herzog besteht aus drei Stroh-Bienenkörben. (Foto: Claudia Luperto)

Kunst kann von den Rändern her agieren. Das zeigt gerade der etwas peripher liegende Kulturort Weiertal unweit von Winterthur, wo derzeit die 8. Biennale Weiertal zu sehen ist. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass genau dies das Wesen der Kunst ist: von den Rändern her zu agieren. Denn Kunst zeigt Menschen stets neue Perspektiven auf, und dazu gehört auch, den anthropozentrischen Blick zu hinterfragen oder diesen sicheren Boden gar zu verlassen. Tatsächlich führt Kunst stets über die Grenzen fester und verleiblichter Identitäten hinaus, sie schafft es, uns auch mit tierischen und pflanzlichen Kräften zu verbinden – und damit mit einer grösseren, planetarischen Dimension. Das tut sie, indem sie an die Kraft der Imagination appelliert, diese schwer zu fassende menschliche Gabe, die vielleicht gerade in Krisenzeiten eine Alternative zu einer um sich greifenden Ratlosigkeit bietet. Letztere geht leider auch mit der Spaltung der Gesellschaft und einem immer aggressiver werdenden Diskurs in den sozialen Medien einher. Keine gute Voraussetzung für einen «Common Ground». 

Einen solchen stellt die Kuratorin Sabine Rusterholz Petko in ihrer gleichnamigen Biennale in den Vordergrund. Ihr geht es dabei um das Ausloten eines gemeinschaftlichen Territoriums als Gegenpol zur ressourcenverschlingenden Verwertungslogik unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Den Weiertaler Garten sieht sie nicht als idyllische Natur oder als hermetisch abgeschlossene Gegenwelt zur Kultur, sondern als fruchtbaren und weit verzweigten Boden, der Stoff liefert für neue Erzählungen, für neue Formen des Denkens und – um einen Begriff der amerikanischen Philosophin Donna Haraway zu zitieren – des «Mit-Werdens». Die Figur, die Haraway in ihrem Buch «Unruhig bleiben» leitet, lautet SF, was Verschiedenes meinen kann: spekulative Fabulation, Spiele mit Fadenfiguren (string figures), spekulativer Feminismus, science fact oder auch Science-Fiction. 

Wie kann ein Raum möglichst gemeinschaftlich und vielfältig genutzt werden? Diese Frage lieferte Sarah Hablützel und Marko Mijatovic die Inspiration für die installative Arbeit «Shared Space I». (Foto: Susanna Koeberle)

Einem ähnlich vieldeutigen Humus scheinen auch die 17 künstlerischen Beiträge der 8. Biennale Weiertal zu entwachsen. Die meist eigens für diese Ausgabe entstandenen Kunstwerke führen aber auch vor, dass die sogenannte «Natur» immer eine von Menschen gestaltete ist und die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur eben keine so eindeutige. Wobei sich die in diesem Garten lebenden Wesen nicht so einfach zähmen lassen und sich dem menschlichen Blick zu entziehen wissen. Das zeigte gerade anlässlich meines Besuchs eine Begegnung – oder besser: eine Fast-Begegnung – mit einer Wasserschlange im zentralen Weiher des Parks. Kurz davor war sie noch gesichtet und gefilmt worden, Sekunden später deuteten nur noch einige Luftblasen auf die Präsenz des Tieres hin. 

Schlangen spielen gerade im Kontext der biblischen Erzählung vom Garten Eden keine unwesentliche Rolle. Dieses Narrativ ist aber einseitig, weil es nur für einen Teil der Erdbewohner*innen zutrifft – den Teil allerdings, der für die Ausbeutung des Planeten steht. Die Schlange steht nämlich in anderen Kulturen genau nicht für das «Böse», sondern für ein ganzheitliches und kulturell tief verwurzeltes Wissen, das Menschen und Mehr-als-menschliche-Wesen miteinander eint. Dieses Wissen haben sich Europäer*innen im Zug der Kolonialisierung entweder schamlos angeeignet oder es zum Verstummen gebracht. Die künstlerischen Beiträge im Weiertal sensibilisieren auch für diese vielfach verschütteten Geschichten; sie fungieren als subtile Augenöffner, die anregende Erzählungen bieten und mögliche Zukunftsszenarien vorführen. 

Im Weiher schlängelt sich das geheimnisvolle Wesen «Hellbender» von Vanessa Billy. (Foto: Claudia Luperto)

So gesellt sich an dieser Biennale das geheimnisvoll anmutende, auf der Weiheroberfläche schwimmende Schlangenwesen «Hellbender» von Vanessa Billy zu ihrer eben nicht im eigentlichen Sinne verwandten Artgenossin. Als Vorlage für die Wirbelsäule aus im 3-D-Druck verarbeitetem rezykliertem PET diente der Künstlerin das Fossil eines Salamanders, der vor über fünf Millionen Jahren am Bodensee lebte. Heute sind seine Überreste im Paläontologischen Museum der Universität Zürich ausgestellt. Bei Billy geschieht gleichsam eine wundersame Auferstehung, die Zeiten überbrückt. Sie deutet eine neue Ära an, in der die Evolution eine neue Wendung nehmen könnte. Künstlich und natürlich koexistieren in der Arbeit der Schweizer Künstlerin, sie imaginiert quasi eine Transformation oder Rückführung der Relikte unserer Konsumgesellschaft, wobei ihre Vision auch eine postapokalyptische Note besitzt. Aber vielleicht müssen wir uns auch an den Gedanken gewöhnen, dass unsere Abfälle eines Tages Teil von Lebewesen werden; sie sind es genau genommen schon jetzt.

Zu spekulativen Gedankenspielen regt auch die Arbeit von Nicolas Buzzi und Harmony an. Schon beim Betreten des Gartens irritieren merkwürdige Geräusche, die zum einen an Donner erinnern, zum anderen wie Kuhglocken tönen. Sie stammen von einer Art grossformatigem Instrument bestehend aus genormten Bauelementen, die üblicherweise für Bühnen verwendet werden. Die Adaption und Zweckentfremdung schaffen ein undefiniertes Objekt, das etwas fremd in der Landschaft steht. Es kann zugleich als Manifest verstanden werden. Die fahnenartige Folie, die das Donnergeräusch erzeugt, ist nämlich Statement und Projektionsfläche in einem; der fast aggressive Klang verweist auf die Dringlichkeit, Bestehendes infrage zu stellen oder mit Donna Haraway gesprochen «unruhig zu bleiben». 

Die Installation «Wind of Change» von Nicolas Buzzi und Harmony setzt formal auf ästhetisierte Funktionalität. (Foto: Claudia Luperto)

Das tun verschiedene Arbeit auch, indem sie auf andere kulturelle Kontexte verweisen. Etwa Ishita Chakraborty, die aus ökofeministischer Perspektive auf die Folgen der klimatischen Veränderungen in ihrem Geburtsland Indien schaut. Die Künstlerin besuchte in den letzten Jahren wiederholt die Sundarbans, die grössten Mangrovenwälder der Erde, die teilweise in Ostindien liegen. Dort ist die Bevölkerung extremen klimatischen Veränderungen ausgesetzt. Besonders stark darunter leiden die Frauen, die sich sowohl um Hausarbeit und Familie kümmern müssen als auch im Kampf gegen Überschwemmungen massgeblich für den Schutz der bedrohten Wälder engagiert sind. Für diese sensiblen und sich verändernden Territorien steht Chakrabortys Garten im Garten, den die Künstlerin aus Saris gebaut hat. Diese traditionellen Kleidungsstücke werden in der Region auch als Zaun genutzt. Auf diesem neu ausgesteckten Feld hat die Künstlerin verschiedene Küchengefässe platziert, aus denen Stimmen und Geräusche dringen. 

Die Arbeit macht deutlich, dass soziale und ökologische Probleme nicht voneinander zu trennen sind. Die indische Aktivistin und Feministin Vandana Shiva zeigt in ihrem Buch «Wer ernährt die Welt wirklich?», wie eng das Thema Ernährung an wirtschaftliche, politische, soziale und klimatische Fragen gekoppelt ist, die «dank» der Globalisierung eben auch uns betreffen. Den Blick auf andere Kulturen zu richten, hat also nichts mit Exotismus zu tun, sondern belegt, wie eng verflochten diese grundlegenden Themen gerade heute sind; so eng eben wie unsere Körper und die Nahrungsmittel, die wir ihnen zuführen. 

Mit der Installation «The Songs of Resistance» bezieht sich Ishita Chakraborty auf die Region Sundarbans, die sich im riesigen Mündungsgebiet der Flüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna im Osten Indiens befindet. (Foto: Claudia Luperto)

In diesem Zusammenhang sei auch die minimalistische Intervention von Uriel Orlow genannt, der dieses Jahr mit dem «Prix Meret Oppenheim / Grand Prix Kunst» geehrt wurde. Man erkennt die vier Markierungen im Garten kaum als Kunst und muss den Kontext dazu geliefert bekommen, um sie zu verstehen. Das übernimmt zum Glück ein klar gestaltetes Booklet, das Besucher*innen am Eingang ausgehändigt wird. Man kann den Garten natürlich auch ohne zusätzliche Informationen geniessen, aber wenn man die kurzen Inputs gelesen hat, eröffnen sich ganz neue Sichtweisen. Orlows Arbeit ist leise und präzise. Sie nimmt mit einer fast unsichtbaren Geste auf die Geschichte der lokalen Siedlungs- und Agrarpolitik Bezug: Aufgrund der damals herrschenden Lebensmittelknappheit wurde das Sumpfgebiet im Weiertal in den 1920er-Jahren trockengelegt und jeder Familie eine Juchart Ackerland zur Verfügung gestellt. Orlow geht der Frage nach, wie viel Fläche wir heute in der hiesigen Klimazone brauchten, um uns selber pflanzenbasiert zu ernähren – und steckt eben diese 33 auf 33 Meter im Garten ab. 

Von der Verbindung zwischen Nahrung, Handwerk und Tierwelt handelt die Installation «HUM IV» von Dunja Herzog, die sogar ein eigenes Habitat für Tiere, genauer gesagt für Bienen, gebaut hat. Die Künstlerin, die zwischen Basel und Pretoria lebt, interessiert sich seit ihrer Residenz in Johannesburg für die kulturelle Praxis der Imkerei und baut immer wieder Bienenstöcke. Im Weiertaler Garten bestehen die drei Bienenkörbe aus gebundenem Stroh, wie man sie auch hierzulande schon im Mittelalter kannte. Heutzutage sind Holzkisten üblich, die auf die grösstmögliche Extraktion von Honig ausgerichtet sind. Herzog vereint nicht nur verschiedene Erzählstränge, sie setzt diese auch gleich in der Praxis um. Ihre Arbeit ist gleichsam der lebende Beweis, dass es auch anderes gehen würde. Kunst mag dies mit einer gewissen Naivität vorbringen, aber man darf sie keineswegs unterschätzen. Politische Umwälzungen machen zwar Schlagzeilen, aber sie sind meist auch gewalttätig. Diese Form der Revolution hingegen summt ein leises Lied, aber eines, das Potenzial zum Evergreen hat. 

Die Ausstellung (Rumstalstrasse 55, 8408 Winterthur) dauert noch bis zum 10. September dieses Jahres. Sie kann von Donnerstag bis Samstag zwischen 14 und 18 Uhr sowie am Sonntag zwischen 11 und 17 Uhr besichtigt werden. Zum Programm

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