Zwischen Rückzug und Teilhabe – der Ersatzneubau des Pflegeheims Seewadel

Andrea Wiegelmann
12. Oktober 2023
Blick auf die Westfassade und das öffentliche Restaurant im Erdgeschoss mit Aussensitzbereich (Foto: Claudia Luperto)

Mit Holz gefasste Nischen geben den Blick frei auf die Umgebung, Sitzbänke und Regalflächen, die sich aus der hölzernen Rahmung entwickeln, schaffen einen Raum für Austausch und Aufenthalt – geradeso wie in schmalen Altstadtgassen die Stühle vor den Eingangstüren zur Teilhabe am Alltag einladen, besonders auch dann, wenn weite Wege zum Problem werden, etwa im Alter. Im Zentrum für Gesundheit und Alter Seewadel, einem neu errichteten Pflegeheim in Affoltern am Albis, besteht die Wahlmöglichkeit zwischen Rückzug und Teilhabe für die Bewohner*innen durch eine intelligente Grundrissorganisation. Die ausgekleideten Nischen markieren die Enden der zwei Flure, die sich auf jedem Stockwerk über die ganze Gebäudelänge ziehen. Diese besonderen Räume eröffnen schöne Ausblicke in die Umgebung. So verankern sie das Haus am Ort, zugleich lassen sie die Bewohner*innen am Geschehen draussen teilhaben. 

Die Menschen, die in dem neuen Haus leben, benötigen Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags, viele von ihnen verlassen das Gebäude nicht oder bewegen sich nur im Umkreis von wenigen Metern um es herum. Dieser eingeschränkte Bewegungsradius macht das Pflegeheim für seine Bewohner*innen zum Zentrum ihres Alltags, zum Lebensraum. Für diesen Zweck haben blgp architekten aus Luzern einen ebenso schlichten wie überzeugenden Rahmen geschaffen. Mit einer bewussten Setzung des Baukörpers und der eingeschnürten Grundrissfigur haben sie ein Raumangebot gestaltet, das Rückzug und Begegnung zugleich ermöglicht. In Verbindung mit einer klugen Materialisierung entsteht ein Ort zum Wohlfühlen für alle, die dort leben und arbeiten. 

Auf der zur Rigistrasse orientierten Gebäudeseite befindet sich eine Gartenanlage, die mit Bänken und einem Wegenetz zum Verweilen und Spazieren einlädt. (Foto: Claudia Luperto)
Das Volumen verjüngt sich zur Gebäudemitte hin, was zu einer klaren Adressbildung führt. Die Fassaden sind durch Bänder aus Weissbetonelementen und mit einem grobkörnigen Waschputz versehene Brüstungsbereiche sowohl horizontal als auch vertikal gegliedert. (Foto: Claudia Luperto)
Die Flure enden in Aufenthaltsnischen wie hier im 3. Obergeschoss. Die schönen Ausblicke auf Affoltern am Albis lassen auch die wenig mobilen Bewohner*innen am Leben draussen teilhaben. (Foto: Claudia Luperto)

Das fünfgeschossige Gebäude, in dem sich neben dem Pflegeheim auch ein Restaurant und die örtliche Spitex-Zentrale befinden, steht unweit des Bahnhofs von Affoltern am Albis an der Oberen Seewadelstrasse in einem Wohnquartier. Es ersetzt ein Pflegeheim aus den 1970er-Jahren, das nicht an die Anforderungen an eine zeitgemässe Pflegeeinrichtung angepasst werden konnte. Die umgebende Bebauung ist weitgehend geprägt von frei stehenden Ein- und Mehrfamilienhäusern, unmittelbar an das Pflegeheim grenzt die mit dem Vorgängerbau einst verbundene und nun frei stehende Regionalbibliothek. Nördlich des Grundstücks befinden sich zwei viergeschossige Wohnzeilen, in denen zum Teil Alterswohnungen untergebracht sind. 

War der in Ost-West-Richtung orientierte Neubau im Wettbewerbsentwurf noch mit drei Pflegegeschossen vorgesehen, so wurde aufgrund der gestiegenen Nachfrage nach Pflegeplätzen in der Ausführung ein viertes Geschoss ergänzt. Den Zuschnitt des Grundstücks und die bestehenden Rahmenbedingungen nutzten blgp architekten, um das lang gestreckte Volumen mit einer Einschnürung in der Mitte der Längsseiten auszustatten. Diese markiert zur erschliessenden Oberen Seewadelstrasse den Eingang des Pflegeheims und zur rückwärtigen, um gut ein Geschoss höher gelegenen Rigistrasse den Zugang zum öffentlichen Restaurant. Die Einschnürung bezeichnet gleichzeitig das Zentrum des Hauses: In der Gebäudemitte befinden sich auch das zentrale Treppenhaus sowie die Liftanlagen und weitere dienende Räume, zudem sind in den Pflegegeschossen jeweils der Empfang und die Gemeinschaftsräume dort angesiedelt. Die an der Fassade entstehende perspektivische Verkürzung verankert das Volumen gleichzeitig am Ort. Trotz seiner Grösse passt es sich überraschend selbstverständlich in die vorhandene Bebauung ein. 

Eine Einschnürung markiert die Mitte des Hauses und sein Zentrum. Im Erdgeschoss befindet sich dort der Empfang, in den Pflegegeschossen jeweils der Empfangsbereich und die Gemeinschaftsräume. (Foto: Claudia Luperto)
Flurbereich in einem Pflegegeschoss. Die Flure enden jeweils mit den Aufenthaltsnischen und geben den Blick auf die Umgebung frei. (Foto: Claudia Luperto)

Neben der Einschnürung nutzten die Architekten einen Höhenversprung im Gelände für die Organisation des Erdgeschosses: Auf dem Niveau des Haupteingangs befinden sich die Räume der Verwaltung sowie der Spitex, im Geschoss darüber liegen das Restaurant, die Küche und ein Mehrzwecksaal, die zur Rigistrasse orientiert sind; auf die Seewadelstrasse ausgerichtet sind derweil acht Pflegezimmer mit Empfangsbereich. Darüber befinden sich die eigentlichen Pflegeschosse. Während die ersten beiden Etagen für Bewohner*innen eingerichtet sind, die sich weitgehend selbstständig bewegen, sind die beiden Geschosse darüber für Menschen mit Demenz geschaffen. Für sie ist auch ein grösserer Teil des Daches mit einem geschlossenen Gartenbereich gestaltet, ein kleinerer Abschnitt ist unterdessen für alle Bewohnenden des Hauses zugänglich.

Die Aufweitung des Grundrisses von dessen Mitte zu den Rändern wird in den Wohn- beziehungsweise Pflegegeschossen durch den eingangs erwähnten umlaufenden Flurbereich aufgenommen. Vom Erschliessungskern her betritt man die Etagen über die jeweiligen Empfangsbereiche. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich der gemeinsame Aufenthalts- und Essbereich der Bewohnenden. Ausgehend von diesen öffentlichen Zonen führt der sich aufweitende Flur von Ost nach West beziehungsweise West nach Ost durch die gesamte Gebäudetiefe und endet jeweils in von Holz gerahmten Nischen – wie eingangs geschildert. Sie sind auf allen Geschossen unterschiedlich ausgestaltet und verleihen den Fluren selbst eine gewisse Grosszügigkeit und Wohnlichkeit. Das Spazieren durch die Flure könnte man durchaus mit dem Schlendern durch eine Quartierstrasse vergleichen. 

Die Zimmer der Bewohner*innen selbst sind ausgehend vom Erschliessungskern in Vierergruppen ebenfalls in Ost-West-Richtung organisiert, wobei jeweils zwei Zimmer an den schmalen Stirnseiten zwischen den Nischen liegen. Die tiefen Fensterelemente der Flure mit den zur Sitzbank ausgeweiteten Parapeten finden sich in den Räumen wieder, sie rahmen den Ausblick und verknüpfen auch hier das Zimmer mit seiner Umgebung. Ein dunkler Parkettboden schafft eine wohnliche Atmosphäre.

Auch die Bewohnerzimmer werden durch Sitznischen mit der Aussenwelt verknüpft. Der Parkettboden sorgt für Behaglichkeit. (Foto: Claudia Luperto)
Essbereich im 2. Obergeschoss (Foto: Claudia Luperto)
Eine der Küchen der Pflegestationen (Foto: Claudia Luperto)

Über alle Geschosse zieht sich eine konsequente Materialisierung: Ein geschliffener Estrich mit einem lokalen Zuschlag bildet den Bodenbelag der öffentlicheren Erschliessungsbereiche, Einbauten und Türen sind aus Holz, die Zimmerböden mit Eichenparkett ausgelegt, die Wände hell verputzt. Die ergänzende Möblierung in den halböffentlichen und öffentlichen Zonen wie den Essbereichen oder Terrassen ist mit Sorgfalt ausgewählt. 

Die Fassade ist zweischichtig aufgebaut: Vor der inneren tragenden Ebene liegt eine äussere, die die Dämmung und die Holz-Metall-Fenster aufnimmt. Sie besteht aus Betonelementen, die das Gebäude gliedern und ihm seine zum Ort passende Massstäblichkeit verleihen. Die vertikal durchlaufenden Bänder der Weissbetonelemente schaffen eine vertikale Ordnung, während die mit einem grobkörnigen Waschputz versehenen Brüstungsbereiche für eine horizontale Gliederung sorgen. Im obersten Geschoss ist durch die gleichen Elemente eine Attika ausgebildet, derweil die Fassade im Bereich des zweigeschossigen Sockels aus von Sichtbetonelementen gefassten, grosszügigen Verglasungen besteht. Sie kennzeichnen einerseits die öffentlichen Einrichtungen, die sich dort befinden, andererseits fassen sie die Setzung des Gebäudes im abfallenden Gelände. 

Die Gestaltung der Gartenanlagen referenziert an die umliegenden Wohngärten. Blumenbeete, Stauden und Bäume schaffen vor allem auf der zur Rigistrasse orientierten Gartenseite eine ebenso abwechslungsreiche wie übersichtliche Anlage, die von einem Wegenetz durchzogen ist. Statt eines Stuhls stehen für die Bewohner*innen Bänke zur Verfügung, die ihnen die Teilhabe an der Nachbarschaft ermöglichen. Mit dem Zentrum Seewadel haben blgp architekten auch ein Quartiersbaustein geschaffen. 

Grundriss Erdgeschoss (© blgp architekten)
Grundriss 2. Obergeschoss (© blgp architekten)
Schnitt (© blgp architekten)

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