gesehen – 50. Internationale Möbelmesse in Mailand

Juho Nyberg
21. April 2011
Partymeile für Kunst und Kultur: Lambrate (Bild: Juho Nyberg) 

Die Möbelmesse von Mailand als eine einfache – wenn auch grosse – Möbelmesse zu bezeichnen, wäre eine krasse Untertreibung. Neben dem Messegelände gibt es in verschiedenen Gegenden der Stadt Anlässe, Ausstellungen und Apéros in solcher Fülle, dass man auch mit präzisem Fahrplan nur einen Bruchteil erleben kann. Im Stadtzentrum werden in unterschiedlichsten Lokalitäten etwa Kücheneinrichtungen und Kunst zusammengeführt. Neben der bereits etablierten «Zona Tortona» diente das sich entwickelnde Quartier «Lambrate» als Kulisse für Ausstellungen junger Designer. Hier tanzt auch abends der Bär und das ganze Quartier verwandelt sich in eine Partymeile.

Spitzenverarbeitung: Gelaserter Blechkorb (Bild: Juho Nyberg) 

Viele der Ausstellungen sind kuratiert und präsentieren sich dem Besucher angenehm aufgeräumt mit einigen ausgesuchten Schwerpunkten – ein wohliger Gegensatz zur Reizüberflutung auf dem Messegelände. Im Lambrate überzeugte die Ausstellung über israelische Jungdesigner. Der sorgfältig gestaltete Ausstellungsraum bot eine Übersicht über Leuchten, Stühle und kleine Einrichtungsgegenstände. Moderne Methoden wie etwa Lasercutting dienen der präzisen Verarbeitung von unterschiedlichsten Materialien. Derart geschnitten wirkt ein Korb aus Metall filigran wie feinste St. Galler Spitze und eine Hängeleuchte aus beschichtetem Holz lässt sich entlang der Perforationen beinahe beliebig biegen. Das Massenprodukt wird durch die implizite Aufforderung zum Spiel zu einem Unikat.

Lampe: Besteht aus lauter gleichen Holzplättchen (Bild: Juho Nyberg) 
Natürliche Materialien, einfache Formen

Holz ist allenthalben zu sehen, so auch an der Messe selbst. In der Arena für Jungdesigner dominieren natürliche Materialien wie Holz und Papier. Diese werden mit modernen Technologien verarbeitet – neue Klebe- und Verbindungstechniken – oder kombiniert – LED –, sind erschwinglich, klein und damit praktisch überall einsetzbar. Freie, wilde Formen hingegen sind nur selten zu sehen, die Faszination von unbegrenzter Planbarkeit am Computer mit Hilfe von 3D-Programmen scheint verpufft.
Die eingangs erwähnte Natürlichkeit der Materialien schlägt sich auch in der Formensprache nieder und gebiert gradlinige Objekte ohne dogmatisch zu wirken. Die Urform eines Lampenschirms ist nunmal rund und ohne guten Grund werden diese archetypischen Grundelemente nicht gross verändert. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Leuchten der deutschen Marke «nachacht». Sie wirken bei aller formalen Einfachheit dennoch wohnlich und trotz der Konstruktion aus Holz nicht rustikal-hölzern.
Die Raffinesse wird «en detail» gesucht und manchmal auch gefunden. Die Lichtobjekte der finnischen Designerin Kirsti Taiviola bespielen Wände mit Lichtmustern, die durch die besondere Beschaffenheit der Glaskugel erzeugt werden. Die mundgeblasenen Kugeln haben Blumen- oder Wabenstrukturen in der Oberfläche.

Lichttapeten aus Finnland (Bild: Juho Nyberg) 

Eine Innovation nutzen die jungen Designer von Spalvieri Delciotto für ein wetterbeständiges Sitzmöbel. Wie eine zu gross geratene Lunchtüte steht das weisse Ding aus Tyvek in ihrem Ausstellungsraum. Das papiervliesartige Material wird häufig für Schutzanzüge, wie ihn die Kriminaltechniker in den TV-Krimis tragen, verwendet. Auch auf dem Bau kommt es als Dampfbremse zum Einsatz. Für die Sitzgelegenheit wird der Sack aus dem UV- und wetterfesten Baustoff mit Ultraschall verschweisst.

Wetterfeste Tüte als Aussenmöbel (Bild: Juho Nyberg) 
Coole Schweizer auf der Höhe der Zeit

Unter den etablierten Herstellern lässt sich zweierlei beobachten: Solche, die ihr Sortiment auf eine bestimmte materialästhetische Basis stellen, können höchstens formal auf aktuelle Trends reagieren oder sie feilen einfach an ihrem Auftritt. Kartell tritt mit einer quietschbunten Ausstellung an, die mit ihren Neonreklamen wie ein Jahrmarkt daherkommt, inhaltlich aber eher selbstrefenziell ist. Anderen spielt der Zeitgeist eher in die Hände, wie etwa den Schweizer Möbelherstellern Röthlisberger Kollektion und Thut Möbel. Ihre Ausstellung reflektiert ihre grundsätzlich zurückhaltend-diskrete Haltung zu Materialien und Formen. Das neue Regal «Staccato» von Röthlisberger Kollektion kommt entsprechend reduziert daher und erlaubt sich im präzisen vertikalen Raster ein paar Freiheiten mit der Platzierung der Tablare. Den geschmeidigen, gehobelten Tablaren aus geölter Eiche stehen die Aussenflächen sägeroh als Kontrast gegenüber.

Rauhe Schale... Regal Staccato (Bild: Röthlisberger Kollektion) 

Bei Vitra hat man sich Gedanken ums richtige Sitzen gemacht. Dabei herausgekommen ist der Stuhl «Tip Ton» von Edward Barber & Ian Osgerby. Die Kufen des Stuhls sind am vorderen Ende leicht angeschrägt, um die Person beim Sitzen auf der Vorderkante in eine ergonomische Haltung zu zwingen. Nach anfänglichen Unsicherheiten wegen dem überraschenden Kippen fühlt man sich rasch wohl und findet sich gerne in einer vorwärts geneigten Denkerpose in Gedanken verloren wieder.
Alfredo Häberlis letzter Wurf «Jill» interpretiert die Sitzschale aus Holz neu. Die Analogie zu Klassikern von Jacobsen oder Eames liegt nahe. Doch gelingt es Häberli, die Zitate geschickt miteinander zu verbinden und daraus einen eigenständigen Stuhl zu entwickeln. Besonders schön wirkt das Sitzpolster in Kontrastfarbe zum Holz, das gleichzeitig auf das fertigungstechnisch bedingte Loch zwischen Lehne und Sitzfläche hinweist.

Gelungen zitiert: Jill von Alfredo Häberli (Bild: Juho Nyberg) 

Bei all den vielen Stühlen, Tischen und weiteren Möbeln sind es die Details, die den Charakter des eigenen Lieblingsstücks ausmachen. Für die Suche nach den versteckten Eigenschaften lohnt sich die Reise nach Mailand bestimmt auch im nächsten Jahr.

Vorgestelltes Projekt

TK Architekten

Revitalisierung Shopping Center «Serfontana»

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