Kulturgut Schoggitaler

Inge Beckel
18. September 2014
Zur Erinnerung an die Aktion für den Silsersee Anno 1946. Bild: Schweizer Heimatschutz

Sammelaktionen gehören seit jeher zum Tun des Schweizer Heimatschutzes. Als Anfang des letzten Jahrhunderts im Innern des Matterhorns ein Lift und auf dem Gipfel ein Hotel geplant war, sammelte er Unterschriften gegen diesen «freventlichen Plan», wie dessen Geschäftsführer von 1950, Ernst Laur, in einem Rückblick schrieb.1 Zusammen mit weiteren Gegnern einer Matterhorn-Erschliessung wurden Unterschriften gesammelt – 80'000 kamen zusammen! Das Vorhaben wurde ad acta gelegt.

Rettungsaktion Silsersee
Auch im Jahre 1944 waren Verantwortliche der Schweizerischen Vereinigung für Heimatschutz – heute Schweizer Heimatschutz – sowie des Schweizerischen Bundes für Naturschutz – heute Pro Natura – mit Vertretern des Kreises Oberengadin gefordert. In weiten Teilen Europas herrschte Krieg. Entsprechend sollte die Schweiz möglichst unabhängig in ihrer Versorgung sein, auch hinsichtlich der Energie. Ein damals schon seit Jahrzehnten diskutiertes Kraftwerkprojekt wollte den Silsersee anzapfen. Womit der See und mit ihm die Landschaft des Oberengadins markant und nachhaltig verändert worden wären. Im Jahre 1944 also beachsichtigten die Oberengadiner Gemeinde Sils sowie die Bergeller Gemeinde Stampa, den anfragenden Konzessionären die Bewilligung für den Bau eines Kraftwerks zu erteilen. «Denn die Gelder für die Konzessionserteilung waren beträchtlich und in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit ein willkommener Zustupf für die fast leeren Gemeindekassen»2, wie die Historikerin Madlaina Bundi dazu schreibt.

300'000 Franken betrug die versprochene Summe für die beiden Gemeinden. Die einzige Möglichkeit, diese von ihrem Vorhaben abzuhalten, war, ihnen für ihren Verzicht300'000 Franken zu zahlen. Wie nur sollte man aber zu dem Geld kommen? Die Kassen der Kantone und des Bundes waren ebenfalls leer. Gleichzeitig schien eine Geldsammelaktion in der Bevölkerung wenig Erfolg versprechend, hatten die Menschen doch ihre eigenen Sorgen und wenig frei verfügbares Geld. Also mussten die Schutzvereinigungen selbst das Geld aufbringen. Da jedoch nach den Anfragen bei Firmen und Stiftungen nicht einmal die Hälfte des nötigen Geldes zusammengekommen war, beschloss das Komitee Pro Lej da Segl im Mai 1945, «den Leuten für ihr Geld nicht wie bei den gängigen Sammlungen nur ein Abzeichen, sondern etwas Nützliches»3 zu geben, nämlich Schokolade. Denn diese war zu jener Zeit rationiert und sollte noch bis im Mai 1946 nur über Lebensmittelkarten bezogen werden können.

Die Idee fand breiten Anklang. Für die geplante Sammelaktion gab das Kriegsernährungsamt im November 1945 schliesslich 20 Tonnen Milchschokolade frei. Die Schokoladenstücke wurden als runder Taler geformt und in goldfarbene Aluminiumfolie gepackt – der Schoggitaler war geboren, so, wie es ihn noch immer gibt. Der Verkauf startete im Februar 1946, mehr als 20'000 Schülerinnen und Schüler wurden schweizweit zu kleinen Schoggitalerverkäuferinnen und -verkäufern. Und die Aktion war ein voller Erfolg: Insgesamt 823'420 Taler wurden zu einem Preis von damals 1 Franken abgesetzt. Der Silsersee war gerettet. Und was übrig blieb von dem Geld, wurde unter den beiden Vereinen Schweizer Heimatschutz und Pro Natura aufgeteilt. Angesichts des Erfolges beschlossen diese, die Aktion zu wiederholen – bis zum heutigen Tag.

So sah der Talerverkauf 1950 aus. Bild: Schweizer Heimatschutz

Basisdemokratisch
Sammelaktionen sind Ausdruck von Basisdemokratie, das lässt sich wohl sagen. Denkt man beispielsweise an die 80'000 Unterschriften, die vor gut 100 Jahren gegen das eingangs erwähnte Matterhorn-Projekt gesammelt worden waren, so stellten diese angesichts einer Bevölkerung, die nicht einmal zweieinhalb Millionen Menschen erreicht hatte,4 ein veritables Gewicht dar, über das sich kein Vertreter welcher Institution oder Regierung auch immer unbesehen hinwegsetzen konnte. Übrigens sei angemerkt, dass nicht allein die Silsersee-Nutzung durch ein Kraftwerk durch Protestaktionen aus Bevölkerung und Schutzverbänden verhindert wurde – worüber heute wohl die grosse Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner der Region, ebenso Tourismusvertreter und alle Gäste froh sind! –, sondern auch andere Vorhaben. So sollten in den 1940er- und 1950er-Jahren etwa das Rheinwald-Tal um Splügen zur Wasserspeicherung mehrheitlich geflutet werden oder das S-charl-Tal, ein Seitental im Unterengadin an der Grenze zu Italien.5

Gleichzeitig wurden aus den Erlösen der Schoggitalerverkäufe im Laufe der Jahre unterschiedlichste Kultur- sowie Naturgüter unterstützt, gerettet oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Denn jeder Talerverkauf ist einem Thema oder einem Ort gewidmet, wohin der Erlös fliessen wird. So gingen beispielsweise die beiden Brissago-Inseln im Lago Maggiore 1949 aus Privatbesitz an den Kanton Tessin, die Gemeinden Ascona, Brissago und Ronco und damit an die öffentliche Hand über. 1969 etwa konnte das Kloster St. Johann in Müstair, heute ein Unesco-Weltkulturerbe, mit dem Talerverkaufserlös restauriert werden. 1975 ging das Geld nach Splügen, das zwanzig Jahre später den Wakkerpreis erhalten hat. Oder 1988: Da wurde das Geld für die Renaturierung des Baldeggersees im Luzerner Seetal verwendet. 2001: Dieser Erlös leistete einen Beitrag an die Wiederansiedlung des Bibers in Schweizer Gewässern. 2014 schliesslich heisst das Thema Dorfplätze.

Nun hat in den letzten Jahren, da Schokolade und andere Süssigkeiten im Überfluss vorhanden sind, der Kauf des goldenen Talers nachgelassen. Nichtsdestotrotz sind Schweizer Heimatschutz und Pro Natura über diese Geldquelle froh – ja, mitunter darauf angewiesen. Vielleicht müsste von dieser Seiten die Nützlichkeit des Verkauften für Käuferinnen und Käufer, wie sie sich anno 1945 die Verantwortlichen des Komitees Pro Lej da Seglstellten, überdacht werden? Anstatt Schokolade vielleicht Lose mit einem Hauptgewinn eines Wochenendes in einem der schönsten Hotels der Schweiz? Oder das Sammeln mittels Crowdfunding-Methode erweitern? Von Seite der Käuferschaft gilt es nicht zu vergessen, dass sich neben den verantwortlichen Verbänden die jungen Talerverkäuferinnen und Verkäufer stets über gute Erträge freuen. Schliesslich aber drückt der Erfolg einer Sammelaktion immer auch ein Wille der Bevölkerung aus, denn zugunsten von etwas, das man nicht will, wird in der Regel weder unterschrieben noch Geld ausgegeben. 

Anmerkungen
1) E. Laur, Der Schweizer Heimatschutz, seine Ziele und sein Werk, in: Heimatschutz, 2_3/1950, S. 45.
2) Madlaina Bundi, Die Anfänge des Schoggitalers, in: Heimatschutz, 3/2014, S. 7.
3) Ibid., S. 8.
4) Vgl. Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 2014 (bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/02/blank/key/bevoelkerungsstand.html).
5) Zum Rheinwald-Vorhaben s. zahlreiche Berichte im Heimatschutz in den 1940er-Jahren; zum Spöl-Projekt: E. L., Der Nationalpark und die geplanten Kraftwerkbauten am Spöl, in: Heimatschutz, 4/1956, S. 121ff.

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