Marseille – Kulturhauptstadt 2013

Julia Bendlin
5. September 2013
Der neue Boulevard Les Quais d’Arenc lässt das Hafengebiet glänzen (Bilder: Autorin)

Es gibt sie wirklich, diese Städte, die die Welt bedeuten. Zumindest deine kleine Welt. Städte, die dich sehnsüchtig von einem anderen Leben träumen lassen. Bei Marseille waren es die Bücher von Jean-Claude Izzo und die Musik von Massilia Sound System, wegen derer ich schon seit Jahren die zweitgrösste Stadt Frankreichs besuchen wollte. Diese Geschichten über das Leuchten am Hafen, über das Meer, das die Ferne so nah bringt und über das sagenumwobene Arbeiter- und Immigrantenviertel Panier. Oder die Songs von taffen Rappern, die ihre Stadt heiss und innig verehren. Ihre Heimat.

«Ma ville tremble, ma ville est malade» (Massilia Sound System)
Massilia, die älteste Siedlung Frankreichs, hat ein zwiespältiges Image. 2600 Jahre Geschichte prägen «La cité phocéenne». Von hier aus trugen Soldaten ein patriotisches Lied names «Marseillaise» bis nach Paris. Und seit jeher war Marseille Zuflucht und Heimat für Immigranten, Flüchtlinge oder Aussteiger von überall her. In den 1930er-Jahren avancierte die Stadt zum drittgrössten Hafen der Welt. Das waren glorreiche Zeiten. Doch spätestens in den 1990ern verlagerten sich die globalen Hafenaktivitäten derart, dass in Marseille innerhalb von 20 Jahren 50’000 Arbeitsplätze verloren gingen. Böse oder auch liberale Zungen behaupten, die Hafen-Gewerkschafter wären die schlimmsten des ganzen Landes und hätten die Marseiller Wirtschaft auf dem Gewissen. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 22 %, das Doppelte des nationalen Durchschnitts. Zurück blieb ein verschmutztes, verlassenes Hafengebiet ohne Nutzen. Ein Areal, das den Vierteln dahinter den freien Zugang zum Meer versperrte. Zurück blieb auch  der traurige Rekord der ärmsten Stadt Frankreichs: 20% der Bevölkerung leben heute unter der Armutsgrenze. Natürlich trifft es die Heranwachsenden besonders hart. In einigen nördlichen Quartieren liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 70%. Davon profitieren vor allem die Drogenbanden. Schlagzeilen machte Marseille in den letzten Jahren nur noch mit blutigen Strassenkämpfen und mit einem Hilfeschrei der Bürgermeisterin der Nordquartiere, die einen Einsatz der Armee forderte, um gegen Kalaschnikovs und Mafiamorde anzugehen.

Blick vom Fort Saint Jean auf das neue Nationalmuseum MUCEM

«Massilia fai avans» (Massilia Sound System)
Ausgerechnet dieses raue, ungehobelte Marseille wird nun seit einigen Jahren einem radikalen Imagewechsel unterzogen. Mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf mehr Arbeit für alle, auf mehr Kultur. Und auf finanzkräftige Zuzügler aus der eigentlich doch verhassten Hauptstadt. Kurzum, Marseille soll die Mittelmeer-Metropole des 21. Jahrhunderts werden. 1995 gründete sich die «Euroméditeranée», eine Vereinigung, die all das herbeizaubern soll. Mit Umnutzungskonzepten, Quartieraufwertungen und mit viel Kultur. Wir kennen es, das alte Lied. Seitdem wird Marseille kräftig umgebaut. Herzstück des mehrere hundert Millionen Euro schweren Projekts ist das ehemals verwahrloste Hafengebiet und der dort geplante, auf Renderings prächtig daher kommende Hafenboulevard Les Quais d’Arenc. Dessen Ende bildet der von Zaha Hadid erbaute CMA-CGM Turm, das Bürogebäude eines der weltweit grössten Transportunternehmen im maritimen Bereich. In den nächsten Jahren werden weitere Büro- und Wohngebäude von Jean Nouvel, Yves Lion, Roland Carta und Jean-Baptiste Pietri die zukünftige Luxusprachtstrasse säumen. Es soll nicht wenige Marseillais geben, die dem gesamten Stadtentwicklungsprojekt eher skeptisch gegenüber stehen und sich fragen, wozu eine Stadt wie Marseille neue Büros und Luxuswohnungen braucht. Die Mieten steigen seit einigen Jahren eklatant und treiben Alteingesessene zum Beispiel aus dem Arbeiterquartier Panier direkt hinter den Quais d’Arenc. Das Stichwort «Gentrifizierung» ist in aller Munde.

Gebaut wurde im Trockenen hinter dem schützenden Damm, heute trennt ein Kanal das MUCEM von der Stadt (Bild: maps.google.com)

«Mit dem Blick aufs Meer ist das Glück eine klare Sache» (Jean-Claude Izzo)
Das interessanteste Projekt der «Euroméditeranée» ist am Anfang der zukünftigen Luxusbudenmeile entstanden: zwischen Vieux-Port und der Kathedrale La Major thront das im Juni 2013 von François Hollande persönlich eröffnete MUCEM (Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditeranée). Dieses erste nationale Museum Frankreichs ausserhalb von Paris ist nun wirklich eine Reise wert. Weil es erstens ein schlichter, gelungener Bau des südfranzösischen Architekten Rudy Ricciotti ist. Weil es zweitens auf wunderbar unangestrengte Weise das ins Zentrum stellt, worum es geht, nämlich die kulturelle Geographie von Marseille und des gesamten Mittelmeerraums. Und weil es drittens ein ethnographisch-unterhaltsames (!) und zeitgemäss-mutiges Programm unter anderem mit klaren Statements zur Genderfrage und Homo-Ehe (ein deutliches „Oui!“) bietet. Der Bau von Ricciotti bietet dabei beste Rahmenbedingungen: mit viel Platz zum Flanieren und optisch eingebettet in das Mittelmeer, das durch die feingliedrige Beton-Ummantelung erlebbar bleibt und selbst zum Ausstellungsstück wird. Ganz im Sinne von Jean-Claude Izzo.

Vom Fort aus führt eine Passerelle zum Nationalmuseum, ausserdem gibt es eine Bootsverbindung

Das MUCEM ist ein exzellentes Beispiel für die Aufwertung einer Stadt mithilfe von Kultur. Vor allem, weil die Verantwortlichen nicht nur auf eine Sogwirkung für den Tourismus abzielten, sondern mit dem Museum die Marseiller im Fokus hatten. Diese gehen nämlich nicht so häufig in heilige Kunsttempel wie der Rest ihrer Landsgenossen. Der grosse Platz rund ums MUCEM soll auch ohne Museumsbesuch einladen, hier zu verweilen. Für eine vorsichtige, schrittweise Annäherung an die Hochkultur, den Hafenboulevard und den ungewohnten Zugang zum Meer. Und vor allem an eine neue, noch ungewisse Zukunft Marseilles, in der die Stadt hoffentlich nicht jenen rauen Charme verliert, der mich sehnsüchtig von ihr träumen lässt.

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