Normiertes Wohnen im Grünen

Inge Beckel
3. Mai 2012
Ein Tag mit Familie Weber in der Webermühle. Die Bilderserie ist aus: Werbeprospekt für die Webermühle Neuenhof, 1974 (Archiv Ernst Göhner AG)

Wie kommt man auf die Idee, eine Ausstellung über das Wohnen in einer Göhner-Siedlung zu realisieren? Worin lag die Motivation?
1972, also just am Ende des Wirtschaftswunders, wurden die Göhner-Siedlungen zum Sinnbild des bösen kapitalistischen Wohnungsbaus, der die Menschen durch ihre Architektur verrohen und vereinsamen liesse. Der Ruf von «Göhnerswil» ist seither nachhaltig ruiniert. Ich selbst bin in einer Göhner-Siedlung aufgewachsen und habe mich schon als Gymnasiast gefragt, was denn an meinem Dorf so schlecht sein sollte. Auch wenn ich heute kritischer bin: Diese Differenz zwischen Innen- und Aussenwahrnehmung liess mich nicht mehr los.

Ein Tag mit Familie Weber in der Webermühle. Die Bilderserie ist aus: Werbeprospekt für die Webermühle Neuenhof, 1974 (Archiv Ernst Göhner AG)

9000 Wohnungen wurden nach demselben Vorfertigungsprinzip zwischen 1966 und 1982 in den Agglomerationen von Zürich und Genf gebaut. Wie sah dieses Prinzip genau aus? Und: Hat sich die damit verbundene Idee, das Bauen günstiger zu machen, bewahrheitet?
Die Göhner-Wohnungen waren tatsächlich relativ günstig und hatten viel zu bieten: Einen grosszügigen Grundriss, eine eigene Waschküche und eine Einbauküche mit Spülmaschine. Das war um 1965 keinesfalls selbstverständlich. Die Normierung aller Bauprozesse – vom Küchenbau bis zur kleinen Palette von vorfabrizierten Elementen – hat zu Kostensenkungen geführt. Nur: Erst bei einer Jahresproduktion von 1000 Wohnungen war das «System Göhner» wirtschaftlich zu betreiben. Die Ernst Göhner AG musste die Akquisition von Bauland aggressiv betreiben und kaufte es dort, wo es günstig zu haben und noch nicht überbaut war: Auf den Äckern an den Rändern der damaligen Agglomeration. Mit diesem Vorgehen zementierte das Unternehmen seine eigene Raumplanung und machte mit der Umzonung riesige Gewinne.

Die Göhner-Scheibenhochhäuser sind in ihrer Volumetrie nicht kubisch geschlossen, sondern im Höhenverlauf oft abgetreppt und in der Anordnung leicht versetzt. War man bei den Verantwortlichen bemüht, die Individualität der Wohnungen, nicht ihre Gleichheit herauszustreichen?
Die ersten Siedlungen bestanden noch aus viergeschossigen Kisten mit einheitlichen Grundrissen. Ernst Göhner begriff jedoch rasch, dass zu viel Gleichförmigkeit sein Geschäftsmodell schädigen würde, und begann, mit renommierten Architekten und Städtebauern zu arbeiten. Die facettenreiche Gliederung der Gebäude war – wie übrigens auch die qualitätsvolle Landschaftsarchitektur – Ausdruck eines Kampfes gegen die systemimmanente Monotonie des Elementbaus. Dass sich die neu entstandenen Attikawohnungen überdies gut verkaufen oder vermieten liessen, half bei der Entscheidung für mehr Variation sicherlich mit.

Anders als in vielen Ländern, wo Satellitensiedlungen dem sozialen Wohnungsbau dienen, wollten die Göhner-Verantwortlichen Familien aus dem Mittelstand ansprechen. Was waren die Überlegungen? Warum zielte man auf den Mittelstand?
Sieht man von einigen Städten ab, hat der gemeinnützige Wohnungsbau in der Schweiz keine Tradition. Bund und Kantone hielten selbst während der riesigen Wohnungsnot das Banner der freien Marktwirtschaft hoch und versuchten lediglich, mit Planungen und Förderprogrammen günstiges Bauland zu erschliessen und die Effizienz des Bauwesens zu steigern. Ernst Göhner hat dieses Vorgehen perfektioniert und damit das Interesse des Bundesrates geweckt, der ihn als Fachberater beiziehen wollte. Er lehnte übrigens aus Zeitmangel ab. Man sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass Ernst Göhner seine Bestrebungen, preiswert und gut zu bauen, als Dienst an der Gesellschaft verstand. Die Babyboomer, die um 1965 selbst Eltern wurden, stellten übrigens eine riesige Zielgruppe dar, die dringend auf den neuen Wohnraum – im Grünen oder irgendwo – angewiesen war.

Wohnen im Grünen. Das hiess – jedenfalls in den 1960er- und 1970er-Jahren –, die Mütter blieben mit den Kindern im Vorort, während die Geld verdienenden Väter tagsüber in die Stadt fuhren. Eine Fortführung oder Variation des bürgerlichen Geschlechtermodells also?
Genau. Ernst Göhner hat gebaut, was das Publikum wollte. Die Werbeprospekte der Siedlungen zeigen dieses Geschlechterbild deutlich: Der Vater verabschiedet sich von seiner Frau, die noch im Morgenrock ihre zwei Kinder im Arm hält. Dann nimmt sie sich dem Haushalt und den Kindern an. Die moderne Hausfrau, wie sie gerne genannt wird, hatte dank der Helfer im Haushalt anschliessend noch genügend Zeit, um sich für den heimkehrenden Gatten schön zu machen.

Zur Siedlung gehörten Gemeinschaftseinrichtungen. Welche waren es? Wurden sie – in der vorgesehen Form – genutzt? Und heute?
Dort, wo eigentliche Quartiere oder neue Dörfer entstanden, plante die Ernst Göhner AG Einkaufs- und Quartierzentren. Weil die Frau kein Auto besass und der öffentliche Verkehr – wenn überhaupt – nur zeitweise fuhr, waren sie dringend nötig und funktionierten. Mit dem Aufkommen des Zweitwagens begann ihr rascher Abstieg. Die Läden gingen grösstenteils ein und heute sind sie zum Teil eigentliche Bauruinen. Das Fehlen der Läden macht sich heute indes wieder negativ bemerkbar: Ältere Bewohnerinnen und Bewohner vermissen den Dorfladen ebenso wie junge Familien, die eben doch nur ein Auto haben.

Es wurde anfangs bereits angetönt: Göhner-Siedlungen geniessen einen schlechten Ruf, und trotzdem scheinen die Bewohnerinnen und Bewohner zufrieden zu sein. Woran liegt das Eurer Meinung nach?
Man sollte nicht alle Göhner-Siedlungen über einen Kamm scheren. Einige von ihnen weisen einen unglaublichen Wohnwert auf, andere wiederum haben echte strukturelle Probleme. Dass sich hinter «Göhnerswil» verschiedenste städtebauliche Konzepte verbergen, wissen die wenigsten: Sie kennen zwar den Namen und die Klischees, haben diese Orte jedoch noch nie betreten. Ebenso problematisch ist die Rolle vieler Standortgemeinden: Anstatt sich mit den Chancen und Risiken ihrer Grosssiedlungen auseinanderzusetzen, schämen sie sich und stellen ihre Agglomerationsgemeinde auf ihrer Website mit einem Riegelhaus vor.

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