Raumkonzept Schweiz

Sonja Lüthi
25. Januar 2011
Mit einer polyzentrischen Raumentwicklung wettbewerbsfähig bleiben, Zusammenarbeit und Partnerschaften pflegen

An der Medienkonferenz in Bern gab es nicht viel Unerwartetes zu hören: Als Vertreterin des Bundes wies die neue Vorsteherin des Departementes für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), Bundesrätin Doris Leuthard, mit altbekannten Zahlen (1 m2/s) auf die fortschreitende Zersiedlung hin, die zunehmend knappen Ressourcen (insbesondere des Bodens) und die Notwendigkeit einer Raumplanung, welche die politischen Grenzen überschreitet. Lukas Bühlmann, Direktor der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung (VLP-ASPAN) und massgeblicher Kopf hinter dem «Raumkonzept Schweiz», schickte in seiner Ansprache gleich vorweg, dass das knapp 80seitige Konzeptpapier den meisten wohl vage erscheinen werde. Als Begründung verwies er auf die verfassungsrechtliche Kompetenzregelung in der Raumplanung, die den Gestaltungsspielraum erheblich einschränke. Was aber alle Redner – neben den erwähnten, Walter Straumann für die Kantone, Daniel Brélaz für die Städte und Silvia Casutt-Derungs für die Gemeinden – dem «Raumkonzept Schweiz» hoch anrechneten, ist die vertikale, die institutionellen Ebenen übergreifende Zusammenarbeit. Sie kann als bisher grösster Erfolg des Konzeptpapiers betrachtet werden, aber offensichtlich auch als grösste Herausforderung. Von der Vereinbarung zur gemeinsamen Erarbeitung eines Raumkonzeptes für die Schweiz (am 11. Mai 2006) bis zu dessen Präsentation gingen schliesslich fast fünf Jahre ins Land.

Nationale Raumkonzepte zuvor

Blicken wir zurück: Nationale Leitbilder für die räumliche Entwicklung der Schweiz gab es schon früher. 1973 stellten Chefbeamte des Bundes das Entwicklungskonzept «CK 73» vor, mit einer klaren Hierarchie von Städten, Agglomerationen und Gemeinden. 1996 präsentierte das damalige Bundesamt für Raumplanung die «Grundzüge der Raumordnung Schweiz», mit besonderem Augenmerk auf die gute Vernetzung der Städte untereinander und damit die Konkurrenzfähigkeit des Landes innerhalb Europas. Während das «CK 73» nie umgesetzt wurde – einerseits mangels Realitätsbezug, andererseits aufgrund fehlender Kompetenzen – konnte letzteres in gewissen Politikbereichen wie dem Umwelt- und Landschaftsschutz oder der Verkehrs- und Agglomerationspolitik zwar einiges in Gang setzen, jedoch offensichtlich nicht genügend nachhaltig. 2005 führte dies das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) im Raumentwicklungsbericht schliesslich zur berühmten Feststellung, dass sich das Land räumlich nicht nachhaltig entwickelt, oder ganz allgemein zur Erkenntnis, das Raumplanung allein nur wenig bewirken kann.

Bahnhof Neuchâtel (Bild: Alexander Jaquemet) 
Kernaussagen des «Raumkonzept Schweiz»

Was ist nun anders am neuen «Raumkonzept Schweiz»? Erstens – und hauptsächlich: Das «Raumkonzept Schweiz» – das übrigens auf den «Grundzügen der Raumordnung Schweiz» von 1996 aufbaut – ist tatsächlich das erste Konzept, das von Beginn an von allen drei Staatsebenen mitgetragen wird (Bund, Konferenz der Kantonsregierungen KdK, Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz BPUK, Schweizerischer Städteverband SSV und Schweizerischer Gemeindeverband SGV) und in einem partizipativen Prozess mit Vertretern und Vertreterinnen aus Regional- und Lokalpolitik sowie den Bereichen Umwelt, Verkehr, Landwirtschaft, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Planung erarbeitet wurde. Zweitens: Das «Raumkonzept Schweiz» überwindet die politischen Grenzen, indem es das Land gemäss den vorhandenen Qualitäten und dem Potenzial von Regionen in 12 so genannte Handlungsräume unterteilt. Für diese benennt es jeweils die Herausforderungen und strategischen Stossrichtungen. Die 12 Handlungsräume sind: Vier grossstädtisch geprägte (Zürich, Basel, Bassin Lémanique und die Hauptstadtregion Bern), fünf klein- und mittelstädtisch geprägte (Luzern, Città Ticino, Jurabogen, Aareland, Nordostschweiz) sowie drei alpin geprägte Handlungsräume (Gotthard, Südwestschweiz und Südostschweiz). Darunter werden die Metropolitanregionen Zürich, Basel und der Bassin Lématique klar als wirtschaftliche «Zugpferde» ausgewiesen. Gerade dieser Punkt hatte in der Erarbeitungsphase oft zur Verwechslung der Profilbildung mit einer Hierarchisierung geführt: Jeder wollte Metropolitanregion sein (vor allem Bern tat sich schwer damit, nicht als solche anerkannt worden zu sein). Dabei will das Raumkonzept eben gerade einer solchen Vereinheitlichung entgegenwirken.
Die Bewahrung und Weiterentwicklung der vielfältigen Qualitäten auf kurze Distanz – das eigentliche Qualitätsmerkmal der Schweiz – soll erhalten und gefördert werden. Eine wichtige Forderung im Raumkonzept ist entsprechend das Solidaritätsprinzip und der daraus abgeleitete Nutzen-Lasten-Ausgleich: «Es gilt zu akzeptieren, dass man nicht über dieselben Stärken verfügt wie der Nachbar. [...] Das Solidaritätsprinzip basiert darauf, dass alle Akteure des Landes vom Wohlergehen profitieren, zu dem sie selbst beitragen. Die Leistungen, die ein Raum für den anderen erbringt, sollen deshalb angemessen honoriert werden.» Abschliessend gilt es festzuhalten, dass die Handlungsräume keineswegs «in Stein gemeisselt sind». So kann eine Gemeinde auch mal zwei oder sogar mehr Handlungsräumen angehören.
Neben diesem Plädoyer für eine vielfältige und polyzentrische Raumentwicklung – womit nicht nur die städtische, sondern auch ländliche Zentren gemeint sind! – enthält das Raumkonzept noch drei weitere Kernstrategien, die allerdings schon seit längerem von der Raumplanung proklamiert werden: Die Förderung der Siedlungsentwicklung nach innen, die Koordination der Siedlungsentwicklung und des Verkehrs, und die Bewahrung der hohen Standortgunst der Schweiz innerhalb Europas.

Mont-sur-Rolle (Bild: Alexander Jaquemet) 
Weshalb besser?

Weshalb soll ausgerechnet das «Raumkonzept Schweiz» Wirkung entfalten? Erstens: Ganz einfach, weil es schon erste Auswirkungen gehabt hat. Die Metropolitankonferenz Zürich ist im Umfeld seiner Erarbeitung entstanden, ebenso die Hauptstadtregion Schweiz, die politische Zentrumsregion zu der sich am 2. Dezember 17 Städte, 5 Kantone und 3 regionale Organisationen zusammengeschlossen haben (eben weil die Region Bern sich für ein eigenes Profil stark gemacht hat). Zweitens: Der Zeitpunkt ist günstig (mehr dazu weiter unten). Die erste Teilrevisionsetappe des Raumplanungsgesetzes (RPG) zur Siedlungsentwicklung ist bereits vom Ständerat angenommen worden und befindet sich noch diese Woche für die Detailplanung bei der vorbereitenden Kommission des Nationalrates, dem sie anschliessend vorgelegt werden wird. Bedingt durch den Druck durch die Landschaftsinitiative (deren Behandlungsfrist bis zum 14. Februar 2012 verlängert worden ist und zu der die erste Teilrevisionsetappe des RPG ein möglicher indirekter Gegenvorschlag ist), ist die Frist bis zur Vollendung absehbar. Damit hätte ein Kernanliegen des «Raumkonzept Schweiz» innert nützlicher Frist eine gesetzliche Verankerung.

Kritik am «Raumkonzept Schweiz»

Natürlich erntet das «Raumkonzept Schweiz» auch Kritik: Es wolle es allen Recht machen und verliere dadurch an Profil, oder es untergrabe das auf regionalem Wettbewerb basierende Erfolgsmodell Schweiz (wie ganz untreffend in der NZZ vom 21.1. bemerkt wird). Von den meisten wird es jedoch schlicht nicht ernst genommen, was sich mitunter in der marginalen Medienresonanz widerspiegelt. In der Tat muss man Lukas Bühlmann Recht geben, dass das Papier vage bleibt. So enthält es viele Sätze, die zwar gut tönen, aber in sich widersprüchlich sind und daher höchstens als «gut gemeint» erscheinen. Etwa: Die Stärkung der Verkehrsinfrastruktur (z.B. in Luzern, Zug und Zürich oder der Ausbau nach München/Stuttgart), ohne dadurch eine Zersiedlung herbeizuführen; die Förderung der Windkraft, ohne Gefährdung des Landschaftsbildes (Jura) oder die Sicherstellung einer funktionalen und sozialen Durchmischung in den Städten – die in Realität meist durch die Dynamik des Immobilienmarktes verhindert wird. Es sind dies Sätze, welche die unterschiedlichen Interessen der Projektbeteiligten widerspiegeln und die Notwendigkeit, einen Konsens zu finden.

Epesses (Bild: Alexander Jaquemet) 
Fazit

Raumplanung ist immer Interessenabwägung und bleibt daher bei einer Vielzahl unterschiedlicher, gleich stark einwirkender Interessen naturgemäss vage – im schlimmsten Fall bis zur Stagnation. Heute sind wir insofern weiter als in den 1970er Jahren, als dass zumindest, bezüglich der Probleme, die es zu bewältigen gilt, unter den politischen und wirtschaftlichen Akteuren Konsens herrscht: Wollen wir die hochwertige Qualität unseres Lebensraumes erhalten und damit auch wirtschaftlich konkurrenzfähig bleiben, müssen wir das stetige Wachstum von Bevölkerung, Siedlungsfläche, Wohlstand und Mobilität räumlich und finanziell bewältigen und die Versorgung mit Energie auf nachhaltige Weise gewährleisten – um nur einige der wichtigsten Herausforderungen zu nennen. Ob bei der Siedlungs-, bei der Infrastrukturplanung oder der Planung der Energieversorgung: Bei allen Herausforderungen ist die Raumentwicklung ein massgeblicher Bestandteil, und entsprechend für die Weiterentwicklung des Landes essenziell – wenn nicht sogar existenziell.
Insofern darf man Walter Straumann Recht geben, der in seiner Rede den «Leidensdruck» für den günstigen Zeitpunkt für eine Umsetzung verantwortlich machte. Was auch immer er damit gemeint haben mag. Es ist nicht primär der Leidensdruck der Bevölkerung (so lange es möglich ist, sich ein Haus in der Vorstadt zu leisten, mit dem Auto von A nach B zu fahren und der Strom aus der Steckdose kommt, ist dieser marginal), sondern der Leidensdruck der wirtschaftlichen und politischen Akteure. Dass dieser nun dazu geführt hat, dass sie den Stellenwert der Raum- und Infrastrukturentwicklung zunehmend anerkennen, lässt auf die Umsetzung von räumlichen Strategien hoffen.
Natürlich könne man alles beim Alten belassen, sagte Bundesrätin Leuthard anlässlich der Medienkonferenz, «aber eine Schweiz, die sich nicht weiter entwickeln kann, ist nicht meine Schweiz.».
 

Das «Raumkonzept Schweiz» ist nun bis Ende Juni 2011 in Konsultation. Der Bundesrat, die Kantonsregierungen, die Exekutiven von Städten und Gemeinden, Parteien, Verbände sowie weitere Organisationen und Interessenvertreter in der Schweiz und im benachbarten Ausland sind eingeladen, zum Entwurf des «Raumkonzept Schweiz» Stellung zu nehmen. Nach Abschluss der Konsultation Ende Juni 2011 wird das Raumkonzept aufgrund der eingegangenen Stellungnahmen angepasst. Anschliessend soll es von den Partnern aller drei Staatsebenen politisch verabschiedet werden. (mehr Info)

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