Utopien – in Krisenzeiten allseits beliebt

Ursula Baus
16. Februar 2012
Konnte seine Vorstellung, wie Menschen zusammenleben sollten, noch verorten: Holzstich aus Thomas Morus‘ "Utopia" von 1516 (Quelle: Wikipedia)

Das verheissungsvolle Wort Der Europapolitiker Daniel Cohn Bendit behauptete im Dezember 2011, dass wir nach 1945 in einer «unglaublich utopischen Situation» leben, weil wir die Lehren aus der Geschichte missachtet haben und den Krieg für überwunden hielten.(1) «Utopia in our time» betitelte vor kurzem Mark Greif sein New Yorker Occupy-Magazin n+1 und landete damit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.(2) Der Philosoph Peter Sloterdijk spekuliert über die «Utopiefähigkeit unserer Städte», in denen vermutet werde, dass sich das wahre Leben woanders abspiele. Und das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt ergänzt den Titel einer Ausstellung von Architekturmodellen: «Werkzeug, Fetisch, Kleine Utopie».(3) Utopien, so scheint es, sind en vogue.

​Konnte Thomas Morus 1516 Utopia, seine Idee einer anderen, selbstverständlich besseren Gesellschaft, noch auf einer Insel verorten, darf man den Begriff heute gehörig entzaubert sehen. Propagiert heute jemand eine Utopie, riskiert er, in die Ecke der Traumtänzer und Spinner gerückt zu werden. Joachim Gauck bezeichnete die Occupy-Protestler, die noch an einer Vorform der Utopie arbeiten, gar als «albern». Dennoch: Das Wort «Utopie» klingt immer noch sympathisch, denn es belebt die Gedanken an bessere Welten und erinnert daran, dass es zu allem und jedem eine Alternative geben kann. Sich andernorts hinzudenken, ist und bleibt eine feine Sache. Kaum wurde es besser dargelegt als von Ernst Bloch in seinem «Prinzip Hoffnung» von 1959 - und Ernst Bloch war es auch, der dem Traumtänzerischen der Utopie mit dem Begriff «konkrete Utopie» zu begegnen wusste. In zarten Seelen lässt der Gedanke an die Utopie ausserdem eine klangvolle Saite schwingen: die Sehnsucht.

Chris Burden, Installation "Metropolis", 2011 (Bild: Los Angeles I'm Yours)

Zwischen Paradies und Apokalypse Im politischen, planerischen Alltag werden die in den Kulturszenen virulenten Utopien nicht einmal als Denkimpulse zur Kenntnis genommen. Mit dem hanebüchenen Argument, dies oder jenes sei «alternativlos», entlarven sich Politiker und Planer immer öfter als einfallslos und handlungsunfähig. Reaktionen auf Ereignisse, die von Menschen verursacht worden sind – Klimawandel, Wirtschaftskrise, die Katastrophe in Fukushima, das Scheitern von Grossprojekten – zeigen dies nur zu deutlich.

​Trotzdem schiessen alternative Szenarien weltweit ins Kraut, am bekanntesten dürfte Occupy mit munterer Kapitalismuskritik sein. Wie in der gesamten Utopiegeschichte dominieren dabei die Gesellschaftsentwürfe, die nicht mehr auf unbekannte Inseln projiziert, sondern in Relation zu bestehenden, unzureichenden Verhältnissen in die Zukunft entworfen werden. Soziologen reden bisweilen von «postpolitischen» Verhältnissen. Utopien werden also nicht mehr auf Orte, sondern kommende Zeiten bezogen und wirken von dort aber auch auf existierende Orte zurück, die verändert werden sollten. Hier kommen die Planer und Architekten wieder ins Spiel: Sind sie die Richtigen, wenn es um die «Weltverbesserung» geht?

Das Camp der S21-Gegner am Hauptbahnhof, vor Baumfällung im Januar 2012 (Bild: Wilfried Dechau)

Entfremdungen Es stellt sich fast von selbst die Frage, wo am besten angesetzt werden kann, um unsere Lebensverhältnisse zu verändern. Protest im Sinne von «so nicht!» und Planungsalltag im Sinne von «Weiter so» finden derzeit nicht zusammen. Das Alltagsgeschäft: Kaum jemand nimmt das Polit-Gerede ernst, in dem ununterbrochen von «Zukunftsfähigkeit» geschwafelt wird und damit das Alltagsgeschäft heroisiert werden soll. Zwar verspricht die Politik, wie in Baden-Württemberg, auch einen «neuen Politikstil» mit mehr und besserer Bürgerbeteiligung bei Grossprojekten und Planungsprozessen auch anderer Grössenordnungen. Aber sie tut – trotz mancherlei Bemühungen – nicht genug, um mit der Vielfalt exzellenter Ideen Schritt halten zu können. Eine umweltverträglichere Mobilität wird beispielsweise nicht von der Politik initiiert, sondern von Bürgern und – ausgerechnet – Autokonzernen. Zugeben: Die Konzerne üben sich damit auch in neuen Geschäftsmodellen, ähnlich wie die Vermarktungsplattform www.utopia.de, die den ethisch-moralisch «guten» Konsum propagiert und sich auch der Bauprodukte annimmt. Ein anderes Beispiel: Neue Formen, wie Generationen miteinander auskommen können, werden in Eigeninitiative von Betroffenen schon erprobt, bevor die Politik das Problem in Angriff nimmt. Sie hinkt mit Modellprojekten deutlich hinter der Realität her – das war einmal anders, und es kann wieder anders werden.

Und die Protestbewegungen? Sie lassen sich zwar nicht mehr als Kaffeekränzchen ewiger Neinsager abqualifizieren, aber sie müssen mit besser durchdachten, alternativen Ideen und Umsetzungsstrategien überzeugen. Der Wutbürger wird sich langsam, aber sicher  als Mutbürger bewähren müssen. Wer aber noch weiter über den Horizont hinausdenkt, ist zu Umsetzungsstrategien keineswegs verpflichtet.

Zerstörte Landschaften: Die Kreidefelsen auf Rügen bröckeln (Bild: Wilfried Dechau)

Der Charme des Möglichen Wie weit sich Bürger und politisches System voneinander entfernt und entfremdet haben, zeigen skurrile Episoden: Zäune und Transparente der weltweit verstreuten Occupy-Camps landen direkt in Kunst- und Kulturausstellungen, und der Zaun, an dem die Stuttgart 21-Gegner ihren Verdruss und ihre Alternativvorschläge manifestierten, wird vom Bahnhof direkt im Haus der Geschichte Baden-Württemberg entsorgt. Je konkreter die «Es-geht-auch-anders-Vorschläge» werden, um so ungemütlicher wird es für die etablierte Politik, die hier und da abenteuerliche Abwehrstrategien entwickelt.

An Initiativen im Bereich alternativer Planungen und Planungsprozesse fehlt es nicht – siehe dazu auch pars pro toto die Rezension «Olle Kamellen» in diesem eMagazin. Aber es bedarf offenbar immer wieder eines unüberhörbaren «Paukenschlags», der medial verbreitet werden muss, um ein Echo in allen Kreisen zu erzeugen. Im Architekturdiskurs gibt es jedoch auch die Gurus, die schon durch leichtes Hüsteln aufhorchen lassen. Beispielsweise gilt Rem Koolhaas' jüngstes Interesse der «Landschaft», also dem Rest der nicht-verstädterten Welt, um die man sich kümmern müsse. Womit wir bei der Wiederverortung der Utopie sind; denn aus den Städten werden die Ideen dazu, wie man menschen- und weltverträglich zusammenleben kann, ein Mal mehr in die "Landschaft" projiziert.(4) Und damit ist mehr ins Auge gefasst als die Landschaftsverträglichkeit von Strommasten und die Frage, ob eine Autobahnbrücke schön sein kann oder nicht.

(1) Interview in der FAZ, 31.12.2011, S. Z2
(2) Niklas Maak in der FAS, 8.1.2012, S.19
(3) Das Architekturmodell. Werkzeug, Fetisch, kleine Utopie. 25. Mai bis 16. September 2012 im Deutschen Architektur Museum Frankfurt, Eröffnung am 24. Mai um 19 Uhr.
(4) Über die «Utopiefähigkeit der Städte» und die Relevanz der «Landschaft» sprachen Sloterdijk und Koolhaas beim letzten aedes campus-Treffen in Berlin am 29. November 2011; anlässlich der OMA-AMO-Ausstellung im Barbican-Centre in London erläuterte Koolhaas, dass er den Urbanismus aufgeben und sich der «countryside» zuwenden werde: ‘Millions have moved to cities from the countryside. They have left behind a weird territory for genetic experimentation, intermittent immigration [and] vast property transactions. It’s truly amazing when you look closely.’

Weiterlesen:
n+1 Utopia in our time!
Occupy! Die ersten Wochen in New York. Suhrkamp, 95 Seiten, 6 Euro.
Zum BDA_Gespräch 2010: Die beste aller Welten. Vorteil und Nutzen der Utopie, siehe eMagazin 49/2010

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