Begegnungsflächen statt Treppenhäuser, Fahrradständer statt Parkplätze

Falk Jaeger
15. Mai 2024
Foto: Joshua Delissen

Das Projekt der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag an der Charlottenburger Arcostrasse in Berlin hatten die Architekten Bruno Fioretti Marquez 2013 im Rahmen des Workshopverfahrens «Urban Living» entwickelt. Sie sahen einen Blockrand mit vier Vorderhäusern und jeweils zwei dahinterliegenden Einzelbauten vor. Bei der Ausführung durch die Hamburger Architekten blrm (Blauraum) mit der Planungsgemeinschaft Assmann Beraten + Planen wurde das Prinzip beibehalten, aber abgewandelt: Fünf sechs- bis siebengeschossige Vorderhäuser bilden die Blockrandbebauung entlang der Arcostrasse. Fünf schachbrettartig versetzt angeordneten Einzelbaukörper, die man in Berlin «Gartenhäuser» nennt, füllen das Innere des Blocks.

Foto: Joshua Delissen

Durch die Anordnung der Baukörper ergeben sich acht durch ein Wegenetz miteinander verbundene grüne Höfe von angenehmer Grösse. Der Clou der Anlage: Die Gartenhäuser habe keine eigenen Treppen und Aufzüge, sondern die Etagen sind durch eine viergeschossige «Steganlage» von den Vorderhäusern aus horizontal zugänglich. Die Erschliessungsbrücken bieten gleichzeitig kommunikativen Begegnungsraum und Spielflächen. Bei warmer Witterung sind sie vielfach belebt. Einige der Wohnungen haben hier auch eine als Terrasse individuell abgegrenzte Fläche. Die grosszügigen Frei- und Bewegungsflächen direkt vor der Wohnungstür gibt es praktisch zum Nulltarif, denn die Brücken aus Betonfertigteilen sind wesentlich kostengünstiger als die fünf Erschliessungskerne mit Treppen- und Aufzugsanlagen, die man durch sie einsparen konnte.

Einziges, wenn auch nicht ganz unerhebliches Manko: Die Flächen dürfen von den Bewohnern nicht durch Pflanzen oder Sitzgruppen in Beschlag genommen werden, denn sie müssen als Fluchtwege frei bleiben. Die Familie, die den Kinderwagen vor der Wohnungstür postiert und ein Bänkchen aufgestellt hat, handelt sich den Rüffel des Hauswarts ein. Da die Gänge vielfach breit genug erscheinen, könnte man vielleicht die Grenzlinien der unbedingt freizuhaltenden Rettungswege auf den Boden malen …

Foto: Joshua Delissen

Die urbane Mischung jedenfalls stimmt: Die Erdgeschosse sind gemeinschaftlich genutzt oder als Gewerbeeinheiten vergeben. Im südlichen Haus bietet eine gut ausgestattete Kita, bei der besonderer Wert auf Inklusion und behindertengerechte Räumlichkeiten gelegt wurde, 80 Betreuungsplätze. Im nördlichen Eckhaus wünscht sich die Gewobag ein Café oder Restaurant mit Spreeblick. Ein Betreiber ist allerdings schwer zu finden, da zunächst in die Ausstattung des Rohbaus ordentlich investiert werden muss. 

Die 1- bis 6-Zimmer-Wohnungen in den Obergeschossen mit Wohnflächen zwischen 34,6 und 132,7 Quadratmetern sind zur Hälfte barrierefrei gestaltet. 55 Einheiten werden freifinanziert zu durchschnittlich 11 Euro pro Quadratmeter vermarktet, 56 an Wohnberechtigungsschein-Inhaber ab 6,50 Euro pro Quadratmeter vermietet. Beheizt werden die Häuser über Fernwärme. Fotovoltaik, für jeden deutschen «Häuslebauer» Pflicht, war für die Gewobag, ein Unternehmen des Landes Berlin, 2019 wohl noch nicht obligatorisch. Immerhin hat man die Anschlüsse vorgerüstet. Die Dächer sind extensiv begrünt. Eine Tiefgarage oder Stellplätze auf dem Grundstück gibt es nicht, dafür Fahrradabstellräume und jede Menge Fahrradständer.

Entstanden ist ein Stück Stadt mit 111 Wohnungen, das vor allem durch das ungewöhnliche Erschliessungssystem ein neues Lebensgefühl erzeugt: hell und luftig, kommunikativ und etwas verspielt, durchlässig, durchgrünt und bar jeglicher Beengtheit. So darf Berlins dringend notwendige Nachverdichtung gerne aussehen. 

Schwarzplan (© blrm Architekt*innen)
Grundriss Erdgeschoss (© blrm Architekt*innen)
Grundriss Regelgeschoss (© blrm Architekt*innen)
Grundriss Dachgeschoss (© blrm Architekt*innen)

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