Gestalten mit Licht
Nadia Bendinelli
29. Juni 2023
Ralph Gibson, aus der Serie «The Somnambulist», 1970 (© Ralph Gibson)
Ralph Gibson ist einer der interessantesten amerikanischen Fotografen unserer Zeit. Sein Werk zeichnet sich durch einen absoluten Formalismus aus: Er erzählt keine Geschichten, sondern drückt Ideen mit Bildern aus.
Das geheimnisvolle Spiel von Licht und Dunkelheit verzauberte Ralph Gibson schon sehr früh: Durch seinen Vater, der Regieassistent war, erhielt er als Kind einige Statisten- und Chargenrollen in Filmen von Alfred Hitchcock und Nicholas Ray. Die dabei entstandenen Bilder erregten seine Aufmerksamkeit. Das intensive Licht, die tiefschwarzen Schatten und die starken Kontraste dieser Filme sollten seine Arbeit nachhaltig prägen. Etymologisch betrachtet bedeutet das Wort Fotografie «Zeichnen mit Licht» – und Zeichnen mit Licht ist, was Ralph Gibson tut. Über die Zeit entwickelte der heute 84-Jährige dabei eine radikale Bildsprache. Die Kontraste seiner Fotografien sind sehr ausgeprägt, Schatten erscheinen oft als schwarze Flächen. Das macht die Faszination aus, die von seinen Bildern ausgeht: Man vermutet beim Betrachten unwillkürlich im Dunkel verborgene Informationen.
Ralph Gibson, aus der Serie «Quadrants», 1975 (© Ralph Gibson)
Die Entwicklung eines Stils1956 trat Gibson als 17-Jähriger in die US-Marine ein. An der Naval School of Photography absolvierte er eine Lehre als Fotograf. Er erhielt eine sehr gute technische Ausbildung, die ihm schliesslich eine Assistenzstelle in der Dunkelkammer der berühmten Fotografin Dorothea Lange einbrachte. Von ihr erhielt er einen wertvollen Rat: Wähle ein Thema, einen Ausgangspunkt und suche deine Motive danach. Das führt zielgerichteter und schneller zu Ergebnissen. Noch heute entwickelt Gibson Bildserien zu bestimmten Themen – teils über Jahre hinweg.
Parallel zur Arbeit für Dorothea Lange besuchte Gibson die Kunstschule. Sein Lehrer lieh ihm eine Leica mit 35-mm-Objektiv aus – die typische Street-Photography-Ausrüstung. Und das schlug sich in seinen Bildern nieder: Geprägt von den Fotografien, die er schon als Kind im Magazin Life aufmerksam betrachtet hatte, besassen seine ersten Bildstrecken Reportage-Charakter. Doch bald begann er, eine surrealistische Bildsprache zu entwickeln. Früh umfassten die Serien auch einzelne Bilder, die nicht länger dokumentarischen Ansprüchen genügten, sondern eine Gefühlswelt zum Ausdruck brachten.
1967 traf Gibson erstmals auf den Schweizer Fotografen Robert Frank, der unter anderem für die Publikation «The Americans» weithin bekannt war. Ein Jahr später assistiert er ihm bei der Produktion des Films «Me and My Brother». Aus der Zusammenarbeit mit Frank lernte Gibson, wie wichtig die Entwicklung einer persönlichen Perspektive und somit einer eigenen Handschrift in der Fotografie ist.
Ralph Gibson, aus der Serie «Days at Sea», 1974 (© Ralph Gibson)
Ralph Gibson, aus der Serie «Nudes», 2018 (© Ralph Gibson)
Bücher, die eine Parallelwelt öffnenEine gute Idee braucht die richtigen Kanäle, um wirksam vermittelt zu werden. Für seine Fotografien und Serien wählte Gibson die Buchform und konzipierte eine erste Reihe von Kunstbüchern mit dem Titel «The Black Trilogy». Die einzelnen Ausgaben heissen «The Somnambulist» (1970), «Deja Vu» (1972) und «Days at Sea» (1974). Wie die Fotografien in den Büchern zueinanderstehen und in welcher Sequenz sie angeordnet sind, ist dabei ein wichtiger Teil des Konzepts – so wichtig, dass Gibson für sein erstes Buch sogar einen eigenen Verlag gründete, um jede Form der Fremdbestimmung und Einmischung bei der Gestaltung zu verhindern. Der Prozess des Auswählens und Anordnens eröffnete ihm ein neues Bewusstsein: Die Arbeitsweise gab ihm die Möglichkeit, den Betrachter in eine surreale Welt zu entführen und die Ebene des Unbewussten aufzudecken. Man fühlt sich durch seine Bücher in eine Parallelwelt versetzt, in ein Reich der Träume und Fantasien. Die Bilderpaare auf den Doppelseiten beeinflussen sich gegenseitig und lassen neue Interpretationsmöglichkeiten zu.
Wenn schon Gibsons erster Band keiner narrativen Struktur folgt, so wird die Bildsprache in den späteren Publikationen noch stringenter, grafischer und abstrakter. Die Zusammenhänge zwischen den Fotografien sind rein formal, sie beruhen zum Beispiel auf Schattenflächen oder vermeintlich gleichen Oberflächen. Für die Deutung dieser Serien oder Bildpaare wird keine vordefinierte Lösung geboten – der Betrachter ist aufgefordert, eine eigene Interpretation zu entwickeln.
Ralph Gibson, aus der Serie «Deja-Vu», 1974 (© Ralph Gibson)
Die FormGibson rückte mit der Zeit immer näher an seine Sujets heran – sie werden auf das Wesentliche reduziert. Vom Hintergrund ist kaum etwas zu sehen. Er isoliert die Details, und die extreme physische Nähe erzeugt paradoxerweise eine emotionale Distanz. Ein sachlicher Blick ohne Intimität ist selbst bei seinen Aktbildern festzustellen. Ralph Gibson ist ein reiner Formalist; ihn interessiert es, eine Idee zu entwickeln und sie durch das Medium Fotografie zu untersuchen und darzustellen. Seine Intention ist dabei nie, eine Geschichte zu erzählen.
Meist wählt er einen Bildausschnitt im Hochformat: «Ich habe bereits vor Jahren entdeckt, dass ich eine grosse Spannung und damit mehr Dramatik mit der vertikalen Komposition erzielen kann. [...] Der vertikale Rahmen dekonstruiert gewisse Voreinstellungen über das Verhältnis des Goldenen Schnitts. Die Vertikale deutet immer mehr auf eine monokulare Sicht hin.» Den Ausschnitt wählt Gibson dabei nicht nachträglich, sondern mit viel Bedacht bereits im Moment der Aufnahme.
Ralph Gibson, aus der Serie «Vertical Horizon», 2019 (© Ralph Gibson)
Retrospektive der Deichtorhallen HamburgRalph Gibson ist heute in den wichtigsten Museen weltweit vertreten. Seit 1962 sind ihm rund 250 Einzelausstellungen gewidmet worden, und seine Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Aktuell präsentiert das Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg eine Retrospektive mit dem Titel «Secret of Light». Sie entstand aus der Zusammenarbeit zwischen dem Künstler und der Kuratorin Dr. Sabine Schnakenberg. Zu sehen sind noch bis zum 20. August dieses Jahres 300 Arbeiten, die seit 1960 entstanden sind. Eine schöne Publikation mit Essays des französischen Fotohistorikers Gilles Mora und seines Kollegen Matthias Harder, Direktor der Berliner Helmut Newton Stiftung, sowie der Kuratorin Sabine Schnakenberg begleitet die Ausstellung.
Ralph Gibson in der Ausstellung «Secret of Light» (Foto: Philipp Meuser)
Ralph Gibson. Secret of Light
Haus der Photographie / Deichtorhallen Hamburg (Hrsg.)
Texte von Gilles Mora, Matthias Harder und Sabine Schnakenberg
240 x 320 Millimeter
240 Seiten
156 Illustrationen
Festeinband
ISBN 978-3-96900-104-2
Kehrer
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