Produktive Verschiebungen

Susanna Koeberle
22. Februar 2022
«The Cherry Orchard» ist Teil der Ausstellung «Personal Shopper» von Tobias Kaspar in der Galerie Peter Kilchmann. (Foto: Sebastian Schaub, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, Zürich)

 

Sie liegen verstreut am Boden der Galerie: die Kirschblüten – und der Junkfood-Abfall. Wie bitte? Der Gegensatz könnte grösser nicht sein. Die Installation «The Cherry Orchard» von Tobias Kaspar, welche Besucher*innen in der Ausstellung empfängt, nimmt auf das gleichnamige Stück des russischen Schriftstellers Anton Tschechow (1860–1904) Bezug und erzählt die Geschichte mit einer imaginären Szenerie weiter. Das Landgut der verarmten Gutsbesitzerin ist längst verkauft, das Haus ist mittlerweile zur Ruine mutiert und wird gelegentlich von Squattern bewohnt. Von der temporären «wilden» Nutzung des Landhauses zeugen achtlos hingeworfene Reste von Take-away-Esswaren: Pizzaschachteln, Pappbecher, Plastik- und Papiertüten mit einem auch hierzulande bekannten Logo. Beim Entziffern der Schrift fällt auf, dass es der Künstler mit der Örtlichkeit sehr genau genommen hat. Der ganze Müll ist nämlich auf Kyrillisch beschriftet. Und noch etwas erkennt man beim genauen Hinschauen: Einzelne Teile dieses Abfalls sind in Bronze reproduziert. Die globale Konsumkultur wird hier also zu Kunst deklariert. Doch da steckt mehr dahinter. Die Benennung hat bei Kaspar etwas Entlarvendes.

Der Künstler betont mit diesem doppelten Zitat das Theatralische, also Künstliche dieses Settings. Er nutzt die Übersetzung in bildende Kunst dazu, uns auf Umwegen einen Spiegel entgegenzuhalten. Seine Arbeit wird zum kritischen Kommentar zur heutigen Zeit. Erzählt die zur Installation gehörende Stimme aus dem Off davon? Die Tonspur hat den Verkauf des Landgutes und des Gartens zum Inhalt. Doch was bedeutet dieser Ausverkauf auf heute übertragen? Ist Tobias Kaspars Installation eine Art Weckruf? Denn die Welt, die er uns präsentiert, kommt zwar rosa und luftig daher wie die durchsichtigen Vorhänge, die das Haus nachzeichnen, doch sie ist zugleich von Stereotypen und Klischees durchsetzt. Genau diese möchte Kaspar auch hinterfragen.

 

Installationsansicht der Ausstellung in der Galerie Peter Kilchmann (Foto: Sebastian Schaub, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, Zürich)

 

Vom titelgebenden Kirschgarten – im Stück ist er wegen seiner bloss dekorativen Funktion Sinnbild für die Nutzlosigkeit des russischen Adels – sind zwar noch Blüten zu sehen, aber es bleibt unklar, ob die Bäume noch stehen oder ob sie einem geplanten Bauvorhaben weichen mussten. Die Plastikblüten sind gleichsam das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie verströmen zwar die gleiche Melancholie wie im Stück, bloss ist aus der tschechowschen Komödie eine Tragödie geworden. Willkommen im Paradoxon der Kunstwelt, scheint diese Arbeit zu rufen. Dass der Künstler Teil dieses kontroversen Markts ist, steht für Tobias Kaspar ausser Frage. Doch er nimmt sich zugleich die Freiheit, die Verstrickung von Kunst und Kapital zu benennen. Kunst ist wie der Kirschgarten Teil eines Systems – und am Ende ist sie vielleicht gar nutzlos wie der Adel bei Tschechow. Handelt es sich also hier um Kunst, die Kunst infrage stellt? Oder ist es gerade die Aufgabe der Kunst, ihre eigenen Fallen aufzudecken? In diesem Falle ist die Antwort ja. Diese Kritik geschieht bei Kaspars Kirschgartenversion etwa durch die Materialwahl; über die Wertigkeit des Werkstoffs Bronze thematisiert der Künstler genau diesen Aspekt. Wie entsteht sogenannter «Mehrwert», fragt er. Kann Abfall durch Materialtransfer einfach zu Kunst werden? Oder ist ihre eigentliche Leistung eine ganz andere? 

 

Einzelne Objekte sind in Bronze gegossen. (Foto: Sebastian Schaub, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, Zürich)

 

Geht es in der Kunst nicht generell um Verschiebungen beziehungsweise um ihre Inszenierung? Das würde auch die Arbeit «The Cherry Orchard» nahelegen. Dass sich der Künstler bei dieser Inszenierung nicht herausnimmt, sondern offen darlegt, Teil dieses «Problems» zu sein, ist ein roter Faden, der sich durch das gesamte Schaffen von Tobias Kaspar zieht. Der Künstler befindet sich in der Position des Wissenschaftlers, der erkennt, dass er vergessen hat, sich beim Messen der Werte als Betrachter mitzudenken. Es ist das bekannte Paradoxon der Gleichzeitigkeit von Beobachter*in und Beobachtetem. Nur, dass eben Kunstschaffende genau für diese blinden Flecken eine Sprache finden. Im bildlichen Vorführen und Greifbarmachen dieser paradoxen Situation liegt die unglaubliche Freiheit der Kunst. 

 

Die bunten durchsichtigen Vorhänge schaffen einen Raum; die kitschigen Farben stehen zugleich für gesellschaftliche Stereotypen. (Foto: Sebastian Schaub, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, Zürich)

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