Spannende Lektüre: Österreichs brutalistisches Erbe

Ulf Meyer
25. April 2023
Landeskrankenhaus Oberwart, 1971–1988/93, Matthias Szauer und Gottfried Fickl (Foto: © Architekturzentrum Wien, Sammlung, Nachlass Matthias Szauer)

In kaum einem Land wurde Beton so eifrig verbaut wie in der Schweiz. Er sei die Muttermilch der Schweizer Architektur, sagte Andreas Ruby, der Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums, anlässlich einer Presseführung durch die Ausstellung «Beton», die sein Haus im vorigen Jahr zeigte. Tatsächlich besteht ein grosser Teil des hiesigen Gebäudeparks aus Betonbauten, die vielfach allmählich in die Jahre kommen. Was mit ihnen geschehen soll, ist eine wichtige Zukunftsfrage. Denn sie schlicht abzubrechen, ist schon aufgrund der grossen Mengen gebundener grauer Energie ökologisch schwerlich zu rechtfertigen. Bei der Suche nach guten Lösungen könnte die wachsende Wertschätzung helfen, die Gebäude aus dem Baustoff, insbesondere jene im Stile des Brutalismus, neuerdings erfahren. 

Auch in unserem Nachbarland Österreich hat sich die Rezeption brutalistischer Bauten verändert: Als im Jahr 2014 das Kulturzentrum Mattersburg im Burgenland, eines der besten Gebäude der Stilrichtung in Österreich, abgerissen werden sollte, entwickelte sich eine intensive Debatte über die Qualitäten der 1970er-Jahre-Architektur. Letztendlich führte sie 2017 aber nur zur teilweisen Unterschutzstellung des Komplexes. Das Bauwerk von Herwig Udo Graf war einst Teil einer Initiative, Kulturzentren in den ländlichen Gegenden der Alpenrepublik zu schaffen. Jene Teile der baugeschichtlich wertvollen Anlage, die nicht unter Schutz gestellt werden konnten, wurden 2019 abgebrochen. Ein Neubau aus der Feder des Wiener Büros Holodeck ergänzt heute den verbliebenen Altbestand.

Sauerbrunner Sparkasse, Mattersburg, 1970–1972, Herwig Udo Graf (Foto: © Architekturzentrum Wien, Sammlung, Vorlass Herwig Udo Graf)

Wie eingangs schon angedeutet, hatten Bauten im Stile des Brutalismus lange einen schweren Stand, und viele Menschen stören sich an ihrer Erscheinung und Materialität noch heute. Doch wie die Debatte um das Kulturzentrum Mattersburg zeigt, wird inzwischen in Österreich wie auch im Ausland der soziale Anspruch vieler brutalistischer Schulen, Kirchen und Kulturzentren anerkannt. Und auch ihr besonderer stilistisch-tektonischer Ausdruck wird mehr und mehr goutiert. Eine neue, freundlichere Bewertung der Sichtbetonbauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren setzt sich zusehends durch. Allerdings, so muss an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, beschränkt sich diese Rehabilitierung leider vornehmlich auf Fachkreise. 

Ein neues Buch, das der Architekturhistoriker Albert Kirchengast und der Kunsthistoriker Johann Gallis herausgegeben haben, zeigt nun, wie vielfältig die Architektur des Brutalismus auch in Österreich ist. Es heisst schlicht «Brutalismus in Österreich 1960–1980» und versammelt diverse akademische Essays zum Thema. Nach Bundesländern gegliedert, verschafft die Publikation einen wertvollen Überblick über die Architekturproduktion nach den Jahren des Wiederaufbaus.

Mittelstation der Ankogel-Seilbahn, Mallnitz, 1966, Otto Baurecht, Martin Esterl und Ludwig Riedmann (Foto: © LMK Rudolfinum, Nachlass Hans-Jörg Abuja)
Fernheizkraftwerk Graz-Süd, 1960–1963, Ferdinand Schuster mit Jenö Molnar (Foto: Stefan Amsüss © Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften, TU Graz) 

«Dieser Band nimmt die Aufmerksamkeit für eine ‹spröde› Phase der Architekturgeschichte zum Anlass für eine Entdeckungsreise zur Spätmoderne», sagen die beiden Autoren selbst über ihr Buch. Von der Betrachtung der konkreten Bauwerke arbeiten sie sich darin zum ihnen zugrunde liegenden Zeitgeist und den Rahmenbedingungen zu ihrer Entstehungszeit vor: Die Kritik an der Formensprache der klassischen Moderne, aber auch an der oft oberflächlichen Geschichtslust der aufkommenden Postmoderne liess die brutalistischen Architekten herbe, monumentale, graue Bauten erdenken. Ob der Brutalismus schlussendlich als die «menschenfeindliche» Strömung in die Architekturgeschichte eingehen wird, als die ihn seine Kritiker*innen sehen, oder doch als soziale Stilrichtung, muss sich noch erweisen. 

Die Leistung der Autoren des informativen Buches besteht indes darin, die Protagonisten, die regionalen Problemstellungen und die Abhängigkeit der österreichischen Architekturschaffenden von den Hochschulen und der Landespolitik minuziös herauszuarbeiten. Die Publikation ist ein lohnender Ausflug in die Baugeschichte Österreichs.

Brutalismus in Österreich 1960–1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in 9 Perspektiven

Brutalismus in Österreich 1960–1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in 9 Perspektiven
Johann Gallis und Albert Kirchengast (Hrsg.)

170 x 140 Millimeter
280 Seiten
150 Illustrationen
Paperback
ISBN 978-3-205-21334-5
Böhlau Verlag
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Manche sehen im Wohnturm von Esther und Rudolf Guyer am Zürcher Triemliplatz das «hässlichste Haus der Schweiz». Doch das Bauwerk im Stile des Brutalismus wartet mit hervorragend gestalteten Wohnungen auf. Die Architekturjournalistin Daniela Meyer und die Gestalterin Vanessa Savaré haben ihm ein Buch gewidmet. Zur Besprechung

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