Über das Herstellen von Heimat in der Architektur

Susanna Koeberle
12. April 2022
Strassenansicht des Hawk’s Mill Winehouse, der Sportsman’s Bar and Grill und der Glarner Stube (Foto © Brian Griffin)

 

Gibt es «Swissness» überhaupt oder müsste man dem Slogan des Künstlers Ben Vautier «La Suisse n’existe pas» folgend sagen, dass dieser Begriff etwas Konstruiertes, ja Fiktives bezeichnet? Das Wort ist übrigens in der Tat ein Neologismus. Wie tritt nationale Identität überhaupt in Erscheinung? Und wie drückt sich Heimat aus? Das sind spannende Fragen, die sich eben auch aus einer architektonischen Perspektive abhandeln lassen, wie die Publikation «Swissness Applied. Learning from New Glarus» zeigt. Das Buch ist die abschliessende Klammer einer Recherche der Schweizer Architektin Nicole McIntosh und ihres amerikanischen Büropartners Jonathan Louie, welche die beiden auch in einer Wanderausstellung präsentierten. Diese machte 2019 in der Schweiz im Kunsthaus Glarus Halt. Ende des letzten Jahres erschien das Buch dazu. 

Die Projekte von Architecture Office seien von Bildern beeinflusst, die neue Kontexte für die Architektur schaffen, heisst es auf der Website des Büros. Ausgehend vom fast künstlich wirkenden Stadtbild von New Glarus in den Vereinigten Staaten, bei dem sich unterschiedliche Gestaltungs- und Alltagskulturen palimpsestartig überlagern, untersuchten die beiden Forscher*innen die Art und Weise, wie dort «Swissness» hergestellt und bewahrt wird (darauf deutet auch der Zusatz «applied»). In der 1845 von Schweizer Siedler*innen gegründeten Kleinstadt, die heute 2000 Einwohner*innen zählt, regelt seit 1999 eine Bauvorschrift das Aussehen der Häuser, das bestimmten architektonischen Kriterien von «Swissness» zu genügen hat. Doch wie kam es zu dieser kuriosen Anordnung? 

 

Die 1st Street in New Glarus (Ansichten © Architecture Office)

Um dieses Phänomen zu verstehen, muss man sich die besondere historische, soziale und ökonomische Entwicklung von New Glarus zu Gemüte führen. Man wird dabei daran erinnert, dass die (heute) reiche Schweiz im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland war. Getrieben durch Armut reisten Schweizer Emigrant*innen in die USA – in der Hoffnung, dort ein neues und besseres Leben beginnen zu können. Die aus Glarus stammenden Auswanderer gründeten in der Fremde die Kolonie New Glarus. Doch was heisst das konkret, wenn die alte Heimat in der neuen Welt einen Doppelgänger bekommt? Ging es nicht in erster Linie darum, das Alte hinter sich zu lassen und neu zu starten? Sich zu assimilieren und so eine neue Identität aufzubauen? In der Tat ist diese Balance zwischen Bewahren und Loslassen von «Eigenem» eine Konstante in der Geschichte der Migration. Forschungsarbeiten zur amerikanischen Einwanderung zeigen denn auch, dass die eingewanderten Schweizer*innen ihre nationale Identität zunächst eher zaghaft gegen aussen kommunizierten. Erst im Verlauf der Zeit entwickelte sich ein gleichsam erinnertes und neu erwachtes Bild der Schweizer Heimat, das auch architektonisch seinen Niederschlag fand. Diese vereinzelten, im Chaletstil erbauten Häuser widerspiegelten auch die beruflichen Felder, in denen die mittlerweile assimilierten Menschen tätig waren, etwa die Käse- und Möbelproduktion oder die Textilherstellung. 

 

Installationsansicht der Ausstellung im Güterschuppen des Kunsthauses Glarus (Foto © Angelika Annen)

Dieser nachträgliche kulturelle Transfer ist insofern interessant, als dass er zeigt, wie das Definieren einer nationalen Identität auch einer Art Branding gleichkommt. New Glarus wurde sogar mit «the cheese capital of the world» beworben. Man will nicht unbedingt wissen, wie nahe dieser Käse dem Schweizer «Urprodukt» kommt, aber das spielt auch eine untergeordnete Rolle. Authentizität ist eine relative Grösse. Fest steht, dass durch dieses Markenzeichen eine Industrie entstand, die wirtschaftlichen Erfolg zeitigte. 

Im Zuge der Deindustrialisierung und Rezession der 1960er-Jahre allerdings nahm ein anderer Aspekt von «Swissness» Überhand und es bildete sich ein sogenannter «heritage tourism» heraus. Dafür aber war New Glarus dann doch zu wenig schweizerisch. Was nun? Es lag nahe, das neue Image mittels Architektur zu vermarkten. Architektonische Elemente, die mit der Schweiz assoziiert wurden, kamen verstärkt zum Einsatz. Sie wurden, wie McIntosh und Louie es ausdrücken, angewandt (eben «applied»). Diesen Vorgang nennen sie «Swissification». Dass diese Verschweizerung häufig nur auf der Fassade stattfand, ist angesichts des Marketingaspekts irgendwie logisch, der Bau sollte ja in erster Linie schweizerisch aussehen. Und damit sind wir wieder zurück bei den Bildern, welche die beiden Architekturschaffenden interessieren. Die Untersuchung der architektonischen Eigenheiten von New Glarus (inklusive der abstrusen Bauordnung) führt das Zusammenwachsen zweier Kulturen vor. Kulturelle Zugehörigkeit ist ein Fluidum, das sich stetig transformiert. Dazu passt, dass McIntosh und Louie diese spezifische Architektur für ihre Ausstellung weitergesponnen und die fragmentarischen Elemente spielerisch neu arrangiert haben. Dieser postmoderne Ansatz kann auch als Versuch der Befreiung von kulturellen und architektonischen Stereotypen gelesen werden. Manchmal braucht es solche Ansätze und Gedankenspiele, um einen alternativen Umgang mit den heutigen Bildwelten zu erproben.

 

SWISSNESS APPLIED Learning from New Glarus

SWISSNESS APPLIED Learning from New Glarus
Nicole McIntosh und Jonathan Louie

230 x 300 Millimeter
272 Pages
280 Illustrations
Paperback
ISBN 9783038602446
Park Books
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