Vertikalbegrünung: Wie geht das?

Manuel Pestalozzi
13. Juli 2023
An diesem Werkgebäude auf dem Areal der Stadtgärtnerei Zürich können vier verschiedene Systeme zur Fassadenbegrünung in Augenschein genommen werden. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Begrünte Fassaden sind aktuell in aller Munde. Doch neu ist die Idee mitnichten: Schon mindestens seit dem 17. Jahrhundert lässt man Kletterpflanzen an der Gebäudehülle emporwachsen. In Europa begannen die Menschen damals, oft kunstvolle Wandspaliere an Hausmauern zu befestigen, um Pflanzen zu kultivieren. Indem man jene an diesen Konstruktionen festband, liessen sich Art und Richtung des Wachstums bestimmen. Rebstöcke oder sogar Obstbäume entlang der Fassade wachsen zu lassen, versprach eine mehr oder weniger reiche Ernte. In der Zeit der Reformarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Spaliere häufig als Gestaltungselement in die Architektur integriert – Ästhetik und zur Schau gestellte Naturnähe vereinten sich.

Heute bevorzugen wir bei der Vertikalbegrünung eher die vermeintlich «wilde» Natur. Bauphysikalische und ökologische Aspekte stehen im Vordergrund, nicht wie früher eine als schön empfundene geometrische Ordnung oder kulinarische Genüsse. Die Fassadenbegrünung soll sich positiv auf das Innenraum- wie auch das Stadtklima auswirken. Diese Zielsetzung hat wiederum Auswirkungen auf den Aufbau von begrünten Wänden.

An der nach Südwesten hin orientierten Stirnwand des Werkgebäudes ist ein bodengebundenes System mit Kletterhilfe installiert worden. Dieses ist ein Nachfolger des historischen Spaliers. Unter den Kletterpflanzen, die hier wachsen, sind Kiwi, Beerenkiwi, Schokoladenwein oder die Schlaraffentraube Magliasina. Die Unterpflanzung umfasst diverse Gewürze wie Rosmarin oder Salbei. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Begrünte Fassaden als politisches Werkzeug

Seit Anfang 2022 gibt es in der Stadt Zürich ein Förderprogramm für Vertikalbegrünung: Wer dort eine Fassade begrünen möchte, kann nicht nur ein Beratungsangebot in Anspruch nehmen, sondern darf auch auf finanzielle Unterstützung hoffen. Das Programm geht auf eine Motion von zwei Gemeinderäten zurück. Nach einigem Zaudern war drei Jahre später auch die Exekutive einverstanden: In seiner Weisung zum Programm schreibt Zürichs Stadtrat, mehr Fassaden zu begrünen helfe mit, die sommerliche Hitze besser zu meistern, die Biodiversität zu fördern, Lärmimmissionen zu dämpfen und die Aufenthaltsqualität in den städtischen Freiräumen zu erhöhen. Die Förderung von Vertikalgrün ist also auch zum politischen Werkzeug geworden, um dem Klimawandel und der Erderwärmung etwas entgegenzusetzen. Vom Bewuchs werden, das lässt die Weisung erkennen, nachweisliche Effekte erwartet.

Die Website des Förderprogramms gibt umfassend Auskunft über die Wirkung der verschiedenen Begrünungsarten. In einer Systematisierung werden diese in je zwei Ober- und Untergruppen gegliedert: bodengebundene Systeme, entweder mit selbstklimmender Vertikalbegrünung oder mit Gerüstklimmer, und wandgebundene Systeme, entweder mit flächiger Vegetationswand oder mit Gerüstsystem. Die Unterscheidung zwischen boden- und wandgebunden weist auf die Option hin, die Begrünung entweder im Erdreich um das Gebäude herum wurzeln zu lassen oder aber in Pflanztrögen. Diese Differenzierung zeigt die unterschiedlichen Möglichkeiten, welche sich in gestalterischer Hinsicht eröffnen. 

Bei diesem modularen System am Werkgebäude der Stadtgärtnerei wachsen nicht kletterfähige Pflanzen aus einer mit Substrat gefüllten Tragstruktur. Diese besteht aus abgekantetem Stahlblech und ist mit einer integrierten Bewässerung ausgestattet. Unter den Pflanzen, die hier gedeihen, sind Kriechender Günsel, Schnittlauch oder Trugdoldiges Habichtskraut. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Beratungsangebote und finanzielle Anreize

Doch welche Vertikalbegrünungsart ist für den jeweiligen Standort am besten geeignet? Welche Variante erzielt dort die grösste Wirkung? Grün Stadt Zürich hat eine Anlauf- und Beratungsstelle eingerichtet, die Interessierten bei solchen und ähnlichen Fragen weiterhilft. Diese städtische Stelle entscheidet auch darüber mit, welche Massnahme mit einem einmaligen Unterstützungsbeitrag gefördert werden. Die Rede ist dabei von maximal 50 Prozent der Kosten bis zu einem Maximalbetrag von 30'000 Franken. 

Architekt*innen sollten sich bewusst sein, dass die Gestaltung einer Fassadenbegrünung mitunter die Konsultation eines Landschaftsarchitekturbüros erfordert. Eine gute Orientierung bietet jedoch auch die Checkliste von Grün Stadt Zürich. Wichtig ist zum Beispiel zu wissen, dass auch vielfältige Vorgaben aus dem Nachbarschaftsrecht, dem Ortsbild-, Brandschutz zu beachten sind.

Bei dieser wandgebundenen Fassadenbegrünung als Regalsystem mit Klettergerüst dient ein leichtes Pflanzgefäss aus Glasfaser und Kunstharz mit mineralischem Dachgartensubstrat als Vegetationsträger. Hier wachsen unter anderem Clematis, das Waldgeissblatt oder Hundsrosen. Die Unterpflanzung besteht etwa aus Europäischem Haselwurz oder Lockerähriger Segge. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Mehr Biodiversität und ein besseres Stadtklima gibt es nicht gratis

Mit der Fassadenbegrünung holt man, so ist es gewollt, die Natur verstärkt zurück in die Stadt. Die Pflanzen sollen helfen, die Biodiversität zu erhöhen, indem sie Tieren einen Lebensraum bieten. Das ist wichtig, doch birgt in der Praxis Spannungspotenzial. Denn Tiere wie auch Pflanzen haben Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen. Nicht immer stehen diese im Einklang mit den Absichten jener, die sie ansiedeln beziehungsweise aussäen. So gibt es beispielsweise Pflanzen und Insekten, die sich bevorzugt Storenkästen aneignen. Nicht alle Menschen akzeptieren das. So kann das neue Zusammenleben mit der Natur unter Umständen auch rasch zu einem Kampf mit ihr werden. Zudem kann es vorkommen, dass eine über grosse Flächen wuchernde Pflanze ihren Lebenshorizont erreicht und plötzlich abstirbt. 

Vertikalbegrünung bedingt wie jede Renaturierung des Stadtraums viel Unterhaltsarbeit und Pflege. Zuweilen fällt Schmutz an, die Pflanzen müssen vorzu gepflegt und vielleicht ersetzt werden. Die Folge können Mehrkosten sein, die möglicherweise auf die Mieter*innen umgelegt werden. Deswegen hat die Stadt Zürich sich dem Thema bereits angenommen: Online wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass der Pflegeaufwand für wandgebundene Begrünungen höher ist als für bodengebundene. Auch erfährt man, dass die Kosten für die Pflege der Pflanzen mit wachsender Höhe steigen. Bei wandgebundenen Systemen, die häufiger den Ersatz von Pflanzen erfordern, so liest man ferner, seien in der Regel mehr als zwei jährliche Pflegegänge notwendig. 

Auch die vierte Art der Vertikalbegrünung am Werkhof der Stadtgärtnerei ist wandgebunden und besteht aus einem Vlies mit integrierter Bewässerung, das auf einer Trägerkonstruktion aus Aluminium befestigt ist. Auf ihm wächst unter anderem die Bergenia Baby Doll und der Cambridge-Storchschnabel Berggarten. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Die erwähnte Website der Stadt Zürich dokumentiert mit 22 Fotografien realisierte Vertikalbegrünungen in und um die Limmatstadt, darunter auch jene auf dem Werkhof der Stadtgärtnerei. Die Präsentation liefert wertvolle Hinweise auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen und lässt auch erahnen, wie gross respektive klein der Einfluss der Architekt*innen bei diesen Massnahmen war. Es lohnt sich, die Beispiele und ihre Darstellung als Einladung zu einem Stadtspaziergang zu verstehen und sich selbst vor Ort ein Bild zu machen – am besten zu unterschiedlichen Jahreszeiten.

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