Chäserrugg

Manuel Pestalozzi
20. Juli 2015
Südfassade mit Restaurantterrasse. Bilder: Manuel Pestalozzi

Bei der Ankunft beim Bahnhof Walenstadt (427 MüM) liegt die Bergflanke zwischen Churfirsten und Alvier noch im tiefsten Schatten. Ein Strässchen führt unterhalb der alten Kirche vorbei zuerst in südöstlicher Richtung in die Höhe, vorbei an einem neueren Wohnquartier. Nach knapp zwei Kilometern ist der Waldrand erreicht. Auf einem kleinen Brückchen lässt sich der Wildenbach überqueren, der mässig Wasser führend aus einer Schlucht hervorschiesst. Ein komfortabler Weg folgt im gemächlichen Zickzack seinem Verlauf. Offenbar handelt es sich um einen alten Saumpfad nach Lüsis, einer kleinen Alpsiedlung zwischen dem Wald und der schwindelerregend hohen Krete. Ein Unterstand mit eigenem Flurnamen, Gräpplig, bietet bei Bedarf Schutz vor den Launen des Wetters.

Schutzbau am Wegesrand.

Allmählich wird der Lärm der Autobahn Zürich-Chur leiser. Vogelstimmen, das Summen der Insekten und das Plätschern und Rauschen des Wassers vermögen die Verkehrsgeräusche zu übertönen. Die Sonne steigt über die Krete. Der Wildenbach ist nurmehr ein Rinnsal, für seine zweite Querung steht keine Brücke mehr zur Verfügung. Der Wald endet, die Wiesen um Lüsis geben den Blick frei auf das erste Etappenziel, einen Passübergang mit dem Namen Nideri, der noch unvorstellbar hoch zu sein scheint.

Grasland im Morgenlicht. Darüber links der Tristencholben, rechts neben ihm der Passübergang Nideri.

Nach Lüsis beginnt die eigentliche Bergwanderung mit einem Pfad, dessen Verlauf vorerst nur noch durch das niedergetretene Gras erkennbar ist. Weiss-rot-weisse Markierungen an Bäumen und auf Steinen versichern den Berggänger, dass er noch auf Kurs ist. Stolpertoleranz und funktionstüchtige Lungen sind gefordert. Tscherlerchämm heisst die steile Hangflanke, die zu überwinden ist, und man ist dankbar, dass er Pfad nochmals durch ein lichtes, doch willkommenen Schatten spendendes Waldstück verläuft. Nideri liegt auf 1839 m ü. M. und bildet einen schmalen Grat. Man wendet sich nach Südosten und sieht rechts die Flumserberge und links, in weiter Ferne, das St. Galler Rheintal.

Unverhoffte Architektur, die aus dem Berg zu kommen scheint. Mögliche Ziele dieser Artilleriestellung müssen viele Kilometer entfernt liegen.

Jenseits des Grats erfolgt ein jäher Abstieg auf eine karstige, weitgehend baumlose Alp. Rohe Betonbauten deuten an, dass sich die Festungsanlage Sargans bis in diese entlegenen Gefilde ausdehnt. Durch einen Canyon führt die Bergwanderweg zum Sattel unter dem Gamserrugg, der aus dieser Richtung an einen erloschenen Vulkan erinnert. Und nun steht man neben dem Chäserrugg, einem der Buckel, die aus dem Toggenburg aufsteigen und zu beiden Seiten von tiefen Tälern flankiert werden. Vorbei geht es an den letzten Schneefeldern, über helles Geröll und zerfurchten Felsboden – bis ziemlich unverhofft hinter dem Mast eines Skilifts das jüngste Meisterwerk der weltberühmten Basler auftaucht.

Annäherung aus nordöstlicher Richtung. Links der langgezogene Restauranttrakt, rechts die Seilbahnstation. Hinter der Kolossalordnung des Tragwerks und der Verschalung verbirgt sich auch eine Open Air Lounge.

Beim Gipfelbau auf 2262 m ü. M. konnte das Team von Herzog & de Meuron einmal mehr zeigen, dass ihre Architektur «massentauglich» ist, also viele Personen aufs Mal angemessen empfangen kann. Der Solitär mit dem längs zum Hang verlaufenden, ausladenden und sanft geneigten Satteldach ist eigentlich ein Terminal für die Kabinen der Schwebebahn, die den Chäserrugg vom Toggenburg her erreichen. Der Aufstieg erfolgt ab Unterwasser in zwei Etappen, die erste wird mit einer Standseilbahn überwunden. Am meisten Passagierverkehr wird vermutlich im Winter registriert, dann kann man auf Skiern oder Boards über den sich gemächlich senkenden Buckel talwärts brettern. Diesem Umstand wird die Anlage gerecht, indem die geräumige Ankunftsplattform als leicht erhöhte Aussichtsterrasse nach Nordosten, also zum Pistengelände, orientiert ist. Eine offene Bretterschalung, die bis unters Dach reicht, bietet Schutz vor den gröbsten Einwirkungen der Witterung, macht aus dem Empfangsbereich aber einen Naturraum. Dieser ist sogar mit einer Art Open Air Lounge-Galerie versehen, wo man im Winter vielleicht heissen Punsch serviert erhält.

Open Air-Lounge im Galeriegechoss über der Ankunftsterrasse des Seilbahnterminals.

Über die Ankunftsterrasse lässt sich das Gebäude direkt verlassen. Sie bietet aber auch einen Zugang in den anschliessenden, erheblich breiteren Restauranttrakt, der zur Bergkrete und somit nach Süden orientiert ist. Dem langgezogenen, an beiden Enden vollständig verglasten Bereich unter der Dachschräge ist ein gedeckter Aussenraum vorgelagert. Das Gebäude befindet sich exakt am höchsten Punkt des Chäserruggs. Da das Terrain sich in südlicher Richtung über einige Meter sanft senkt, bevor es jählings senkrecht abfällt, schwebt der Restauranttrakt leicht über dem Boden und besitzt eine Vorzone, die einen bequemen und ungefährlichen Zugang von der Südseite zulässt. Diesem Umstand wird die Architektur durch zwei Treppenaufgänge gerecht, die mit Sitzbalken verbunden sind und die prononcierte, schwerelos wirkende Horizontalität der Südfassade akzentuieren.

Der Restauranttrakt besteht aus einem Raum. Hinter den Glasscheiben über dem Ausschank verbrigt sich ein Konferenzraum im Obergeschoss, der direkt über die Open Air-Lounge erschlossen ist und ein eigenes Office besitzt.

Das Gebäude ist mit ausgesuchten Fichtenholzmöbeln und Polstergruppen versehen, die Gäste werden nicht mit Standardmobiliar abgefertigt sondern kommen in den Genuss eines umfassenden ästhetischen Erlebnisses, bei dem alles stimmig ist und nichts dem Zufall überlassen wird. Sogar die Toiletten im fensterlosen Untergeschoss des Restauranttrakts vermögen einige Sinne durchaus zu betören. Wie gut das teilweise eher feingliedrige Mobiliar dem groben Schuhwerk des Ski- und Wander-Massentourismus standhalten wird, muss sich wohl noch zeigen.

Urbanes Flair in der Bergwelt: Einbauten und Mobiliar im Obergeschoss des Restauranttrakts.

Das Bauwerk auf dem Chäserrugg macht ein prägnantes Statement, das einfühlsam und unvoreingenommen auf den spezifischen Ort eingeht. Dies ist man sich von Herzog & de Meuron gewohnt. Als flüchtiger Betrachter stellt man sich Fragen nach der Beständigkeit. Mit den überhängenden Dachflächen und dem vielgliedrigen Volumen wird an dieser enorm exponierten Stelle dem Wind viele Angriffsflächen geboten. Beim Zeltcharakter des Dachs kann man nur hoffen, dass alles gut und dauerhaft «verstätet» ist und die «grosse Geste» den Launen des Wetters standhalten kann.

Sekundärträger? Unterzüge? Der ungestüme Formwille führt zu tektonischen Unklarheiten.

Gipfel können bei Wanderungen nie das Endziel sein. Es stellt sich die Frage: Wie weiter? Der nicht besonders bergwandertüchtige Redaktor wagte als Abgang einen Kraftakt, der ihn hinter den Churfirsten vorbei durch ein Gewitter und über haarsträubende Felsvorsprünge nach Amden führte. Er kann ihn nur mit Vorbehalten erfahreneren Alpinistinnen und Alpinisten weiterempfehlen. Allen ans Herz legen kann er allerdings den Hinterrugg.

Blick auf den Chäserrugg vom Hinterrugg.

Der benachbarte, unbebaute Buckel ist etwas höher als der Chäserrugg und lässt sich über anmutige Natur-Stufenfolgen ohne grossen körperlichen Aufwand bezwingen. Dieser Abstecher bietet einerseits die Möglichkeit, das neue Gebäude in seinem Umfeld zu sehen. Andererseits kann man vom Hinterrugg aus auch auf den Walensee hinabblicken und hat die Churfirsten sauber aufgereiht vor sich. Diese «Architektur Gottes» erinnert daran, dass sich Bauwerke stets den Naturgewalten unterordnen und anpassen müssen, wo immer sie auch stehen.

Blick vom Hinterrugg auf den Walensee und die Churfirsten.

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